Der Monatsspruch im Juni 2022

Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm. Denn Liebe ist stark wie der Tod.
(Hohes Lied 8,6)

Guten Morgen, du Schöne/r! – So zu Beginn eines Tages empfangen zu werden, das ist für einige schon ein Weilchen her. Mich selbst auf diese liebevolle Weise im Spiegel zu begrüßen, eher noch länger. Der prüfende Blick auf das gespiegelte Gegenüber wird dann doch je länger, je mehr zu einer recht ernsten Angelegenheit. Das Kinn, die Breite der Nase, jede neue Falte wird akribisch vermessen. Noch ernster wird es bei einer unbedachten Drehung zur Seite, die den Blick freigibt auf andere Körperpartien. Schnell wird das ungünstige Licht im Bad gelöscht und die Spieglein-Spieglein-an-der-Wand-Frage wieder einmal dorthin verbannt, wo sie auch hingehört: ins Land der Märchen. So mancher Badezimmerbesuch mündet in ein Kopfschütteln: Mensch, wie anders ist doch das Bild, das ich den lieben langen Tag von mir herumtrage, als das, was mir da im Spiegelbild präsentiert wird.
Und in so einem Moment passiert es dann. du bist gerade noch beim Zähneputzen, da singt dir eine angenehme Stimme voller Liebreiz von draußen eine Melodie mit romantischer Poesie unversehens ins Ohr und ins Herz. Und die klingt so: „Du mein Himmelsglöckchen, du mein Seidenlöckchen, du mein Sonnenscheinchen, du mein Lieb.“ Schönste Liebesverse und Schmeicheleien bekleiden im Nu das Badezimmer und die eigene Seele: „Du mein Plüschohrstielchen, meines Herzchens Zierchen, du mein Schatz.“ Diese mir zugedachten Liebkosungen sind ernst gemeint und verfehlen darum ihre Wirkung nicht: Ich muss lächeln. Und stelle nach so einem minutenlangen Bad in duftenden Komplimenten beim erneuten Blick in den Spiegel sogar eine Veränderung fest: In Liebesversen, die mir jemand aus ganzem Herzen zusingt, werde auch ich mir schöner, nein, werde ich mir schön. „Du mein liebes Schätzchen, ach du Schmeichelkätzchen, du mein Lieb.“
Wer nun aber nicht wie ein Liedermacher gerade eine Gitarre und Gedanken für solche Liebespoesie zur Hand hat, mag sich gerne im großen Liebeslied des Alten Testamentes bedienen. Schönste Liebesverse aus uralter Zeit sind dort im Hohelied versammelt. Ein Mann und eine Frau sprechen und singen sich gegenseitig ihre Liebe in wunderbaren Bildern zu, und das klingt dann so: Das Haar auf deinem Haupt ist wie Purpur; ein König liegt in deinen Locken gefangen. Deine Schläfen sind hinter deinem Schleier wie eine Scheibe vom Granatapfel. Dein Hals ist wie ein Turm aus Elfenbein …
Über acht Kapitel sprechen sich zwei in traumhaften Bildern ihre Liebe zu. Und werden sich und einander so in der Liebe schön.
Wer ein paar Verse sucht, um die Herzensschöne oder den Liebsten zu Hause wieder einmal zu überraschen mit einem Liebreiz, wird hier fündig. Das allerdings hätte wohl kaum gereicht, um als Liebesbrief über Jahrtausende den Weg in unsere Bibeln zu finden. Doch mit der Liebe der beiden verweben sich ja noch ganz andere Klänge. In der zeitlos sanften Musik der Gärten am Abend und im Wind der Zedern, die das Liebespaar umgeben, klingt ja auch das Liebeslied der Schöpfung mit, das Gott einst über der Welt angestimmt hat und dem bis heute gelauscht werden mag. Die Freude an seiner Schöpfung, die sich hier von zwei Verliebten in den schönen Gärten aufspüren lässt, findet ihren Fluchtpunkt in Gottes Liebe zu seinen Menschen.
Und wenn eine Schöne zu ihrem Schönen sagt: Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm; denn Liebe ist unwiderstehlich wie der Tod, dann verwebt sich damit immer auch die schöne Botschaft Gottes an den Menschen: Ich habe dich je und je geliebt. Das Siegel der Liebe von zweien ist nichts Geringeres als die Liebe Gottes zu seinen Menschenkindern. Und eine Liebe, die unwiderstehlich ist wie der Tod, lässt nicht nur an verwunschene Gärten denken, sondern auch an den Garten Golgatha und die dort weit und wie zur Umarmung geöffneten Hände Christi am Kreuz.
Wem solche starken Gedanken beim Zähneputzen nicht gleich kommen wollen, der mag das Fenster öffnen und sich einfach am Liebesgesang Gottes in seiner Schöpfung freuen, dann noch einmal in den Spiegel blicken und von draußen aufmerksam hören: Guten Morgen, du Schöne/r!

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