„Wir hatten alles geplant, wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete“, hieß es in der Machtzentrale der damaligen DDR. Christinnen und Christen beteten montags in den Kirchen, täglich zu Hause. Der Staat wollte das Gebet ersticken, man drohte den betenden Menschen. In Leipzig sammelten sie sich trotzdem an jedem Montag, immer mehr Menschen kamen dazu, beteten. Sie spürten, dass ihr Gebet etwas bewegt, sie ließen nicht locker, lagen Gott in den Ohren, beteten weiter. Es kamen selbst die Menschen, die nicht wussten, wie das Beten geht, aber auch sie wollten die Gebete nicht verpassen. Kerzen und Gebete, niemand war darauf vorbereitet. Alle waren gleichermaßen überrascht, Christen und Heiden. Wir wissen ganz genau, wer betet, kann selbst der dicksten Betonmauer tiefe Risse zufügen. Wer es erlebt hat, hat lange gut davon.
(Alle singen: Verleih uns Frieden gnädiglich, EG 421)
An einem Morgen, es war ein Dienstag im Herbst 1989, kamen die Frauen und Männer, die die DDR-Staatsmacht vertraten. Sie begannen, den Bürgersteig vor der Leipziger Nikolaikirche zu reinigen. Das Wachs und die Kerzen, die die betenden Menschen aufgestellt hatten, sollten sie entfernen. Die Spuren der Gebete wegwischen, das war ihr Auftrag. Das aber wollte nicht gelingen. Die Frauen und Männer vom Staat „nahmen plötzlich … aus dem Kerzenresthaufen alle Kerzen, die noch zu gebrauchen waren, säuberten sie, zündeten sie an und stellten sie in die Fenster der Nikolaikirche“, erinnerte sich später der Pfarrer Christian Führer, der aus dem Fenster der Pfarrwohnung das Treiben auf dem Platz verfolgte, „ein tiefes Gefühl der Freude überkam mich: So geht das jetzt!“ (https://www.ekd.de/23412.htm aufgerufen 15.01.2022), schrieb der Pfarrer, der in der Zeit der Montagsgebete Pfarrer an der Nikolaikirche in Leipzig Dienst tat.
Für mich besteht kein Zweifel, wer für den Frieden betet und sich nach der Freiheit sehnt, wittert den Duft der Freiheit und kommt mit dem Gebet dem Frieden näher. Wer in unserem Land lebt, kann das bezeugen. Die Montagsgebete stehen in der ersten Reihe unserer Erinnerungen an die Wendezeit 1989, und in der Geschichtsschreibung über diesen Herbst nehmen die Gebete eine der ersten Positionen ein. Seit damals wissen wir, unter Gebeten zerbröseln sogar ausgefeilte Unrechtsregime.
„Verleih uns Frieden gnädiglich“, jedes Seufzen, Wimmern, Schluchzen, Brüllen, das in Richtung Gott gerichtet ist, rechnet mit einer Kraft, die Gewalt und Unterdrückung, Sklaverei und Bespitzelung beendet. Wenn alle sagen, „das ist nun einmal so“ und sich in der Welt der Schlachtrufe irgendeine private Friedensnische einrichten, sagt das Gebet: „Keineswegs ist alles auf immer so fest gefügt, wie man es denkt.“ Wenn viele meinen, man müsste sich an die Fakten anpassen, gehen die Gebete mit den Fakten kritisch ins Gericht.
Immer dann, wenn ich beginnen will, mich in einer ungemütlichen Zeit einzurichten, und anfange, alles so zu akzeptieren, wie es ist, höre ich das alte Friedensgebet.
(Flötenmelodie: Verleih uns Frieden gnädiglich, EG 421)
Wir haben es gesungen, beim Kuwait-Krieg, im Herbst 2001, als in Afghanistan nichts mehr gut war, haben wir um Frieden gebetet, als Corona unsere Gesellschaft belastete auch. „Verleih uns Frieden“, „Dona nobis pacem“, und ich weiß, da ist eine Kraft, die will den Kompromiss, den ich bereit bin mit den „Fakten“, den Heerlagern an den Grenzen, der Gewalt, zu schließen, nicht akzeptieren. „So ist das nun mal, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“, sagt eine innere Stimme. Das Beten weiß es besser. Wenn alle sagen, eine Steigerung des Wehretats sei in Ordnung, dann ist das noch lange nicht richtig. Wenn alle sagen, es werde Friede sein, wenn genug Heerlager an den Grenzen drohen und U-Boote die Weltmeere durchpflügen, dann ist noch lange kein Frieden.
Gott wird nicht müde, uns ein Friedengebet in unser Gewissen und dann auf die Lippen zu legen.
Jede Bitte um Frieden sorgt für einen Riss, der das enge Gedankengebäude, in dem ich es mir bequem machen will, auseinanderbrechen lässt. Wer den Frieden mit Gewalt erzwingen will, wird spüren, wie brüchig dieser Friede wird, wenn das Gebet beginnt. Das Gebet öffnet die harte Schale, die sich eng um einen legt.
(Orgelimprovisation zu Verleih uns Frieden gnädiglich, EG 421)
Martin Luther hat den Text aus dem Lateinischen übernommen. Die Bitte „Dona nobis pacem“ gehört seit der ersten Stunde der Kirche zum christlichen Leben. Dieses Gebet ist seit der ersten Gemeinde so weit angelegt, dass die wenigen Christinnen und Christen in den kleinsten Gemeinden so vermessen waren, für die ganze Welt und deren Frieden zu beten. Selbst als sie verfolgt wurden, beteten sie für den Weltfrieden. Das ist der Dienst unseres Glaubens an der Welt, dieses verwegene mit dem Mut der Schwachen aufgeladene: „Verleih uns Frieden.“
Der Reformator hat die sperrige Melodie mit deren komplexem Rhythmus komponiert. Das Beten um den Frieden ist ebenso komplex und genauso anspruchsvoll wie Luthers Komposition der neuen Melodie. Da schwingt das sehnsüchtige „Nun komm der Heiden Heiland“ im Hintergrund mit. Diese Sehnsucht, dass die Welt von ihrem Streit und den Kriegen erlöst wird, geht hier mit ein. Solches Beten streckt sich weiter aus als der persönliche Wunsch, der die Beterinnen und Beter bewegt. Der Reformator macht es seiner Gemeinde offenbar bewusst schwer, die Melodie und zugleich den Rhythmus zu halten. Man muss schon aufpassen, damit die Stimmen zusammenklingen. Auch den richtigen Ton zu finden beansprucht alle Sinne. Das ist Beten um den Frieden, man sucht den richtigen Ton, um zusammenzubleiben, man muss auf den gemeinsamen Rhythmus achten, um nicht auseinanderzulaufen.
„Keine Gewalt!“, hieß es damals und: „Wir sind das Volk!“ Das gehört unlösbar zusammen, das Volk sein zu wollen und auf die Gewalt zu verzichten. Die Gebete in den Kirchen hatten im Herbst 1989 eine Wirklichkeit geschaffen, die über die Bürgersteige ging und die Köpfe und Herzen der Menschen neu ausrichteten. Beten um Frieden bewegt etwas, an den labilen Grenzen, an denen Menschen sich rüsten für einen Krieg, beten für die Menschen in Russland, in der Ukraine, in Syrien, in Afghanistan … „Wir sind das Volk“, das sind immer auch die anderen Völker, ein Wir mit uns gemeinsam.
(Orgel intoniert leise und der Gemeindegesang setzt ein. Nach dem gesungenen Text leise Interpretation durch Musik: Verleih uns Frieden gnädiglich, EG 421)