Arme Engel

Als die russischen „Soldaten“ aus den Vororten von Kiew abzogen, ließen sie in Butscha entsetzliche Bilder von mehreren hundert Leichen zurück. Die Toten trugen zivile Kleidung. „Alle diese Menschen wurden erschossen“, sagte Bürgermeister Fedoruk. Die Straßen der Kleinstadt seien mit Leichen übersät. Es stünden Autos auf den Straßen, in denen „ganze Familien getötet wurden: Kinder, Frauen, Großmütter, Männer“. Nach Angaben des Bürgermeisters mussten 280 Menschen in Butscha in Massengräbern beigesetzt werden, da die drei städtischen Friedhöfe noch in Reichweite des russischen Militärs lagen. Die Bilder aus Butscha lösten international Entsetzen aus. Noch lösen sich die Bilder entmenschlichter Gräuel im Ukrainekrieg nicht von den Augen, während ich die September-Ausgabe der PASTORALBLÄTTER lektoriere und redigiere.

Mir fällt eine Erzählung von Peter Härtling ein: „Der erste Umgang mit Engeln … fand statt in einem Alter, in dem Schutzengel eine Rolle spielen, spielen müssen. Ich war zwölf. In einem Flüchtlingstransport, der drei Wochen vorher am Donaukai in Wien seine Fahrt begonnen hatte, kamen wir im schwäbischen Wasseralfingen an. Müde, hungrig, schmutzig und stinkend. In der riesigen Baracke begannen wir um Plätze auf den Stockbetten zu kämpfen, meine Mutter, meine Schwester und ich. Erschöpfung und Erwartung hielten die Zusammengepferchten in oft heftiger Bewegung und machten sie laut. Essen wurde ausgeteilt, und wieder gerieten Flüchtlinge in Streit, auch in der Waschbaracke. Je heftiger die Erwachsenen wurden, umso mehr zogen wir Kinder uns zurück, auf die Hochbetten und unter die Decken. Ich erinnere mich, dass plötzlich das Licht in der Baracke, bis auf ein einziges, ausging. Nach einem gedämpften Aufschrei der müden Menge kroch ich unter der Bettdecke hervor. Die allmählich eintretende Stille wurde von einem flatternden Geräusch unterbrochen. Was ich aus meiner Höhe sah, als ich mich im Bett aufrichtete, passte sonderbar zu der vorausgegangenen Unruhe und der Stille vor dem Schlaf aller: Ein Wesen, eine nackte junge Frau, deren weiße Haut wie von innen leuchtete, rannte durch den Gang zwischen den Betten, mit wirbelnden Armen. Sie verschwand am Ende der Baracke auf einem Stockbett, hob die Arme noch einige Male und senkte sie und verschwand, schien sich im Halblicht aufzulösen. Es ist eine Verrückte, die kennt man schon, hörte ich jemanden. Worauf meine Mutter sagte: Ein armer Engel. Dass ein Engel arm sein könne, leuchtete mir nicht ein.
Vier Jahre später wurde mir die Begegnung mit dem Engel erklärt. Ich ging wieder zur Schule, schrieb Gedichte, las, was mir in die Hände fiel. Rilkes ,Duineser Elegien‘ bekam ich von meiner Buchhändlerin gleichsam als Prämie geschenkt. Ich kannte das Werk noch nicht, es galt mir als Heilige Schrift. Als ich die erste Elegie las, kehrte ich mit ihr zurück in die Wasseralfinger Baracke. Obwohl diese Sprache, dieses der Musik nahe Pathos, nicht dorthin gehörte. Doch Mutters ,armer Engel‘ wurde in mein Gedächtnis gerufen. Ich las, und die Stimme, die in mir deklamierte, wurde immer lauter:

,Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? Und gesetzt selbst, er nähme
einen plötzlich ans Herz: Ich verginge, von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir grade noch ertragen –‘

,Er nähme einen plötzlich ans Herz‘: Dieser Vers meinte mich. Der Engel huschte von Neuem an mir vorüber, verwandelte meine Ortlosigkeit in Fassungslosigkeit, weiße Haut von innen leuchtend. Und als erlöse er uns beide, den armen Engel und den Flüchtlingsjungen, folgt notwendig der Vers:

,Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang‘.“
(Peter Härtling, Ein Engel für jeden Tag, Stuttgart 2016, S. 7f)

Gebe Gott, dass im September, wenn diese Ausgabe der PASTORALBLÄT-TER „aktuell“ ist, die Waffen schweigen, das Schreckliche ein Ende hat, die barbarischen russischen Soldaten aus der Ukraine verschwunden, die Kriegsverbrecher aufgespürt sind und wir alle „nur“ noch daran denken, wie wir der freien/befreiten Ukraine beim Wiederaufbau helfen können.
Gerhard Engelsberger

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