Gott lieben, das ist die allerschönste Weisheit.
Sirach 1,10
Das Pfarrwitwenhaus ist wie ein kleines Museum. Sie haben es günstig nach dem Krieg gekauft. Ein altes Fachwerkgebäude mit kleinen Zimmern und einer Haustür, die außen eine Klinke hat.
Durch einen Windfang kommt man in den schmalen Flur. Links gibt es einen Durchgangraum mit Esstisch und dahinter die viel zu kleine Küche. Hierhin zieht Johannes sich immer zurück, um abzuwaschen, bevor er seine Mittags-pause macht. Eine Spülmaschine besitzen die beiden nicht. Haben sie noch nie besessen. Macht keinen Sinn für sie. Vielleicht passiert in Johannes beim Abwaschen auch noch mehr, was man nicht sehen und ins Regal zurückstapeln kann.
Geht man vom Flur aus nach rechts, ist da die „gute Stube“. Hier sitzen wir mittags oder beim Kaffeetrinken. An einem sehr langen Tisch mit vielen aus der großen Familie. In der Enge dieses Raumes, den wir füllen mit Erzählen, Lachen und Schweigen.
Vor und nach den Mahlzeiten sitzen wir oft im Herrenzimmer. Jedenfalls dann, wenn es draußen kalt ist. Im Herrenzimmer steht eine Orgel. Johannes ist nicht nur Lehrer gewesen, sondern auch Organist und Chorleiter. Jahrzehntelang hat er mit dem Chor seiner Kirchengemeinde große anspruchsvolle Werke aufgeführt, gleich gegenüber in der Klosterkirche. Er kennt wahrscheinlich jede Kirchenorgel im weiten Landkreis persönlich, weil er sie alle selbst gespielt hat.
Seine Frau heißt Brünnhilde. Ja, allen Ernstes, das ist ihr Vorname. Sie ist auch Lehrerin gewesen. Hat viele Jahre unterrichtet und kennt wahrscheinlich alle Großeltern, Eltern und Kinder im Ort. Brünnhilde ist begabt. Sie kann vermutlich jede Form von Handarbeit und hat einen eigenen Brennofen fürs Töpfern. Das sieht man der Einrichtung des Hauses auch an.
Während die großformatigen Bildbände und Partituren im Herrenzimmer von ihm erzählen, geben die Wände Auskunft darüber, was sie schön findet. Die beiden besitzen 240 Ikonen. 120 aus Holz und 120 aus Silber. Man geht von Zimmer zu Zimmer und bewegt sich in einer beeindruckenden Bilderwelt. Für mich fremd und vertraut zugleich. Denn es sind Darstellungen von Mose, Elia, Christus und anderen biblischen Szenen. Beschriftet in Griechisch oder Kyrillisch. Ich brauche eine Zeit, um mir zu erschließen, dass der sitzende Mann vor der Höhle Elia am Bach Krit ist. Das erkennt man an dem Raben, den Elia anschaut. Er hat Brot im Schnabel. Das bringt er Elia. Brünnhilde sieht so was sofort. Sie liest in den Ikonen, wo ich nur rätseln oder staunen kann.
Im Sommer sitzen wir draußen auf der kleinen Terrasse. Der Garten ist eine Pracht. Auch von Pflanzen verstehen sie viel. Ich habe Johannes einmal gefragt, wie das eigentlich geht. Mir würden immer alle Blumen eingehen. Und er hat nur kurz gesagt: „Man muss geizig sein mit dem Wasser und sehen, was die Pflanze braucht.“ Seitdem kriege ich es einigermaßen hin.
Als ein Wink des Schicksals uns in eine Richtung stieß, die wir nicht wollten, sagte Brünnhilde: „Wer weiß, wofür es gut ist.“ Dass es tatsächlich für etwas gut wäre, habe ich erst drei Jahre später verstanden. Sie schien es sofort begriffen zu haben.
Gottesliebe und Weisheit kann man nicht erklären. Man kann sich das nur vorleben lassen und davon erzählen. Und wenn ich beides zusammendenke, Weisheit und Gott zu lieben, dann erinnere ich mich an diese beiden. Die Ikone mit Elia hängt jetzt bei mir. Das Pfarrwitwenhaus steht immer noch, aber die Besitzer haben gewechselt. Meine Erinnerungen sind noch lebendig, aber sie selbst sind vor ein paar Jahren gestorben.
Sie waren keine besseren, klügeren oder gläubigeren Menschen. Aber sie waren angekommen am Ziel ihres Lebens. Und großzügig mit Worten und Erzählungen, mit Weisheit und Freundlichkeit.