Sind unsere Predigten noch bei Trost?
Predigt soll trösten. Unterschreiben Sie heute diesen Satz noch, versuchen ihn einzulösen in Ihrer homiletischen Praxis? Angesichts von Tod und Trauer wohl schon, mit unseren stets nach Zuspruch tastenden Worten im Trauerhaus und am Grab. Aber Trost als Generalbestimmung der Predigt, auch der allsonntäglichen Kanzelrede? Das Wort scheint heute altbacken und verschlissen, diskreditiert durch die theologische Einsicht in die „Lügen der Tröster“ (Henning Luther). Bei Trost ist, scheint es, heute kaum mehr jemand zuhause. Betrachtet man die Zeitläufte, stellt sich ohnehin die Frage, ob diese Welt, und besonders jene, die in ihr das Sagen haben, noch bei Trost sind. Andererseits ist aber ja gar nicht auszuschließen, dass gerade deshalb unter den Hörerinnen und Hörern unserer Predigt die Hoffnung, ja Erwartung auf Trost noch immer lebendig ist. Und nicht zuletzt darf man (getrost!?) davon ausgehen, dass in, mit und unter unseren dürren Worten die Erfahrung, unverhofft gar getröstet zu sein, sich einstellt. Wie aber ginge das zu, wie wäre davon verantwortlich zu reden, und was eigentlich meint dieses Wort Trost?
Trost in Beziehung
Trost „ist ein Beziehungsphänomen und kann sich nur entwickeln im Verlauf eines konstruktiven Beziehungsgeschehens. Zum Trost gehören also mindestens zwei.“ (Strunk, 9) Traditionell theologisch gesprochen ereignet sich der Zuspruch des Evangeliums (auch) „per mutuum colloquium et consolationen fratrum et sororum“. Von dieser Grundannahme eines Beziehungsgeschehens möchte ich ausgehen, auch wenn ich zögere, ihr voll und ganz zuzustimmen: Eigentrost mag, wie Strunk schreibt, eine „Seifenblase“ sein. Aber gibt es nicht auch den Trost der Musik? Ist Trost an Worte, an ein konkretes Gegenüber, an ausdrückliche promissio gebunden? Dennoch scheint mir das ein guter Ausgangspunkt zu sein: Trost keimt und blüht nur in Beziehung auf. Dann wäre freilich zu klären, in welcher Art von Beziehung? Strunks „Entdeckungen in Literatur und Bibel“ sind auch hierin erhellend. Besonders eindrücklich für mich ist seine sensible Analyse einer Schlüsselszene aus Theodor Fontanes „Effi Briest“. Der Roman erzählt das Verstoßenwerden und Vereinsamen seiner einst lebensfrohen Titelfigur (vgl. zum Folgenden Strunk 29 f). Nur einer ist der „armen Effi“, wie Fontane wiederholt schreibt, am Ende noch geblieben: Der alte Pastor Niemeyer, den sie aus Kindertagen noch kennt. Auf einem Spaziergang fragt Effi ihn nach dem Sinn des Lebens. Niemeyer vermag ihr darauf keine klare Antwort zu geben: „Was ich vom Leben halte? Viel und wenig. Mitunter ist es recht viel und mitunter ist es recht wenig.“ Was als äußerst dürftige Auskunft, ja als Ausflucht erscheint, genügt Effi; mehr, sagt sie, „brauch ich nicht zu wissen“. Wissen will sie dann aber doch, ob sie denn Aussicht auf den Himmel habe: „Ob ich wohl hineinkomme? Sagen sie mir’s, Freund, Sie müssen es wissen. Bitte, bitte …. Niemeyer nahm ihren Kopf in seine zwei alten Hände und gab ihr einen Kuss auf die Stirn und sagte: ,Effi, ja du wirst.‘„
Aus heutiger Sicht mag diese Form seelsorglicher Zuwendung patriarchal, ja übergriffig erscheinen. Sie verdeutlicht aber, denke ich, einige Kennzeichen eines verbreiteten Verständnisses von Trost. Sie zeichnet ihn als Beziehungsgeschehen zwischen zwei Personen, die miteinander vertraut sind und offen miteinander sprechen. Niemeyer teilt als Seelsorger mit Effi die Ambivalenzen und Unsicherheiten des Lebens und ist andererseits hinsichtlich seiner „Heilszusage“ von lösender Klarheit. Nicht zuletzt macht die Szene auch die Bedeutung leibhafter Zuwendung deutlich. Gesten richten manchmal mehr aus als Worte. Auch wenn die väterlich-gütige Geste des Pastors aus heutiger Sicht problematisch erscheint, spiegelt sie doch die biblische Dimension eines unbedingten Angenommenseins, so, wie einen seine Mutter tröstet (Jes 66,13). Freilich verschärfen solche Beobachtungen unsere Verlegenheit hinsichtlich der Möglichkeiten des Trostes durch eine Predigt, deren Kommunikationssituation eine solche Beziehungsintensität nicht erreicht. Müssen wir Trost deshalb – auch in biblischer Perspektive – in anderen, weiteren Beziehungsgeflechten und -energien denken?
Wider die Individualisierung des Trostes?
In seinem Buch über unseren „Glauben an Gottes Geist in dieser bedrohten Zeit“ hat Geiko Müller-Fahrenholz ein vorherrschendes, auf das Individuum zentriertes Verständnis von Trost einer scharfen Kritik unterzogen. Drei Jahrzehnte ist das her. Aber weder seine Beschreibung irdischer Zustände noch die seinem Eindruck nach gängige kritische Wertung des Trostes haben sich seitdem wesentlich verändert. Wie kam es, fragt Müller-Fahrenholz, dass Trost derart in Misskredit geraten konnte? Und er nennt dazu vor allem drei Gründe (zum Folgenden vgl. Geiko Müller-Fahrenholz, 132–135): Erstens wurde ihm zufolge die Praxis und das Verständnis des Trostes privatisiert und individualisiert. „Das Trösten wurde zu einer Domäne der Seelsorge“, seine Bedeutung für das soziale Miteinander in Gemeinde und Gesellschaft, wie es in der Bibel vielfach begegnet, geriet in Vergessenheit. Menschen begannen „dem Charisma zwischenmenschlicher Solidarität zu misstrauen“. Trösten wurde zu einer professionellen Arbeit Einzelner an Einzelnen. Zweitens kam ihm zufolge zunehmend, und nicht erst in der Moderne, die Vorstellung auf, Trost sei eine Art von Medizin, eine Rezeptur, die uns verlässlich und zeitnah zu heilen imstande ist: „Dass das Pneuma des Trostes etwas mit Heilung und Befreiung zu tun hat, steht außer Zweifel. Aber der Trost ist nicht die Arznei, die uns hilft, ein bestimmtes Leid definitiv loszuwerden.“ Bei Paulus dagegen, so Müller-Fahrenholz, meint Trost ein „bergende Kraft mitten im Kampf um das Reich Gottes“. Es gehe nicht um das Lösen irgendwelcher Probleme, sondern um ein „Leben in der Kraft der Solidarität, die dazu hilft, Anfechtung, dem Zweifel, der Verfolgung und dem Leid ( …) standzuhalten.“ Drittens, und hier verweist Müller-Fahrenholz auf das Johannesevangelium, ist „Trost ohne Wahrheit nicht zu haben“. Trost ist nicht Schönfärberei. Bezeichnend und fatal zugleich, wenn der Volksmund zu wissen glaubt, dass nirgends so viel gelogen wird wie bei Beerdigungen. Es geschieht freilich nicht nur bei Sterbefällen (und dort hoffentlich nicht allzu oft!), dass unter dem Deckmantel des Trostes die Wahrheit unter den Tisch gekehrt und verschwiegen wird. Der Heilige Geist ist aber bei Johannes (siehe oben!) nicht nur eine Kraft der Lehre und Erinnerung. Er/Sie ist auch eine Dynamik, die uns „in alle Wahrheit leitet“ (Joh 16,13), eine „Wahrheit, die uns frei machen wird“ (Joh 8,32).
Henning Luther hat diese Kritik in einem wegweisenden, wenige Wochen vor seinem eigenen Tod gehaltenen und erst posthum veröffentlichten Vortrag radikalisiert. Für ihn wird Trost „dann zur Lüge, wenn unser Blick sich beschränkt auf unser individuelles privates Leben und das ausblendet, was um uns herum geschieht“ (Luther, 163). In Anlehnung an das Buch Hiob und die (durchaus sensiblen und redlichen) Bemühungen der Freunde Hiobs erscheinen für Luther Sinngebungsversuche heutiger Seelsorge als meist unangemessene Beschönigungen: „Von Hiob könnten wir lernen, nicht zu leidigen Tröstern zu werden und Gott zum Sinnbeschaffer zu machen, der uns beruhigt. Das Hiobbuch verwehrt uns die einfache Gleichung Gott und Sinn. Für die Affirmation unseres Daseins, so wie es war und ist, lässt sich der Gott des Hiobbuchs nicht ge(miss-)brauchen“ (172). Trost gibt es nach Luther nur in eschatologischer Perspektive, in der Spur biblischer Hoffnung und Sehnsucht. Seelsorge (und ich ergänze: Predigt) sollte demnach „mehr zur Teilhabe am Leiden einüben helfen, als mit vorschnellen Hilfs- und Trostangeboten aus dieser „Trübsal“ hinwegreden“ (175).
Luthers Ausführungen sind heute Standardlektüre jeder Reflexion verantworteter Seelsorge. Ich verstehe seine Kritik an den „Lügen der Tröster“ nicht als Generalverdacht, wohl aber als „Kautele“, als Warnsignal vor einer Versuchung, der wir aus durchaus menschlichen Gründen immer wieder zu erliegen drohen, sei es im Zwiegespräch, sei es auf der Kanzel. Freilich lässt sich fragen, ob für eine solche biblisch fundierte Aufweitung des Beziehungshorizontes unsere gängige Rede und unser Verständnis von Trost noch angemessen ist. Dazu noch einige etymologische Beobachtungen.
Trotzig getrost und getreu
Das Wort Trost (vgl. Strunk, aaO., 121), ist bis in seine indogermanischen Wurzeln hinein verwandt mit Treue, Festigkeit, Standhaftigkeit. Mehr noch: Trost und Trotz gehören (nicht nur sprachlich) zusammen (123). Christian Möller hat in dieser Spur seiner Selbstrevision früherer Überlegungen zur seelsorglichen Predigt eben diesen Titel gegeben: „Trost und Trotz“. Möller schreibt: „Wie kann sich eine Predigt den Mühseligen und Beladenen zuwenden? ( …) Mir wurde immer klarer, dass der Trost nicht allein bleiben darf, wenn er nicht weinerlich und weichlich bleiben soll. Es braucht den Trotz als die andere Seite des Trostes“ (aaO., vii). Belege für diese seelenstärkende Liaison findet Möller in Martin Luthers Insistieren auf einer theologia crucis, aber auch in der mystischen Theologie des Cherubinischen Wandersmanns, bei Sören Kierkegaard ebenso wie in Bonhoeffer Briefen aus seiner Haft in Tegel. Rechter Trost gibt also nicht einfach klein bei, bleibt nicht stilles, holdes Bescheiden. Trost kann und sollte Reservoir widerständiger Energien sein. Strunks literarische und biblische Beispiele zeigen eindrücklich, dass solch trotziger Trost eine Quelle von Erneuerung und Verwandlung sein kann, gerade dann, wenn sie das einzelne Schicksal, die einzelne Beziehung in den weiten Horizont göttlicher Verheißungen stellen. Gerade die Predigt bliebe dann den biblischen Tröstungen treu, wenn sie sich analog zur „billigen Gnade“ auch einem billigen Trost verweigert und so gesehen heilsam ent-täuscht. In diesem Sinne möchte ich Henning Luther zustimmen, der das Tröstliche des Glaubens „in der anhaltenden Beunruhigung und Befremdung über unsere Welt“ (170) sieht. In Abhebung zur meist individuellen und intimeren Beziehungskonstellation des seelsorglichen Gesprächs sehe ich hier die besondere Aufgabe der (sonntäglichen) Predigt, diese globale Treu- und Tragweite und den adventlichen Horizont biblischen Trostes aufzuschließen. Christliche Predigt ist dann auch ein Akt, eine Artikulation der Solidarität von vorläufig oftmals noch trostlos Hoffenden und Seufzenden. Sie wird dabei im Blick auf ihre (Un)Möglichkeiten wahrhaftigen Trostes gleichsam wie von selbst immer wieder zur Anrufung und Mündung des verheißenen Tröstergeistes.
Wo bleibst du, Trost …?
„Vertröstung narkotisiert, Trost antizipiert. Deshalb gehört der Trost in den Advent, und der Advent steht im Zeichen des Trostes“ (Strunk, 150). Es ist kein Zufall, dass zentrale Texte biblischen Trostes gerade in der Zeit der Erwartung, der Hoffnung, des in aller Finsternis doch beharrlich zunehmenden Lichtes ihren liturgischen Ort haben. Die Klage und dringliche Bitte des alten Gesangbuchliedes lässt sich freilich zu allen (Kirchenjahres)Zeiten singen:
Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffen stellt?
O komm, ach komm vom höchsten Saal, komm, tröst uns hier im Jammertal!