Rottenberg saß in Kreuzberg bei seinem Italiener, er musste nachdenken. Seine Frau Sheary wünschte sich eine Wundergeschichte zu ihrem vierundzwanzigsten Geburtstag. Sie war süchtig nach Geschichten und sie sind ihm mittlerweile leidlich ausgegangen. Ein Tag ohne Geschichten und erst recht an einem Geburtstag, das war nicht vorstellbar. Das konnte und wollte er seiner Frau nicht zumuten. Er liebte sie und würde ihr alles geben, erst Recht …, aber er hatte keine Wundergeschichten mehr, nicht eine einzige.
„Ohne Wunder keine Wunder …“, sagt der Fremde zu ihm, der an seinen Tisch getreten war. Seine langen Haare hatte „er im Nacken zu einem Zopf gebunden, darüber, keck in die Stirn gezogen, ein rotes Barett mit dem weiß-blauen Emblem der israelischen Gadner-Brigaden“ (B. Stein, S.11).
Jacoby, so nennt sich dieser seltsame Mann, entpuppt sich als Geschichtenerzähler. Die Beiden werden sich schnell handelseinig, jeden Dienstagabend kommt Jacoby von nun an zu dem Ehepaar. Auf dem Tisch steht sein Lohn bereit, eine Flasche Wodka. Und während er sie nach und nach leert, füllt sich der Raum mit seinen Geschichten. „Was ich erzähle, geschieht, nicht umgekehrt“, betont er. Im Erzählen werden die Worte zur Wirklichkeit, seine Wundergeschichten werden zum Erlebnis, zum Abenteuer. Die Drei entfliehen ihrem Alltag, sie fliegen von Berlin nach Prag und Budapest, es geht um Zeichen und Lehren, es wird geliebt und gehasst, Menschen werden geboren und verglühen. Sie erleben den wieder erwachten Golem, der die Fäden in diesen unentwirrbaren Geschichte zieht, und sie begegnen natürlich dem sagenhaften Rabbi Löw, der ihnen erklärt, dass die Welt auf den zweiundzwanzig Buchstaben des Alphabets steht und jeder einzelne sei zu achten. Und er mahnt sie, der Weg der Erleuchtung führte allein über dieses Alphabet, aber auch der Fall in die tiefste Finsternis.
Benjamin Stein hat sich in seinem Roman „Das Alphabet des Juda Liva“ bei dem Sefer Jezira bedient, einer der bekanntesten Schrift der Kabbala. Es ist die Suche des Menschen nach Gott, sie wurzelt tief in der biblischen Tradition und zieht sich durch die Jahrhunderte. Im Mittelalter, vielleicht im 10. Jahrhundert, ist der Sefer Jezira entstanden, das Buch der Schöpfung. Bisweilen wird es auch in die antike Zeit datiert, vieles an diesem Werk ist unsicher, selbst der Umfang ist unklar und die Fülle der Kommentare ist unüberschaubar geworden. Und wie man an dem Buch Steins sieht, beschäftigt es Menschen bis in die Gegenwart hinein. Sein Roman ist wie der Sefer Jezira aufgebaut, die Parallelen sind auffallend.
Die jüdische Tradition weiß um die Kraft des Wortes – es schafft neue Wirklichkeit, es ist eine Wirklichkeit. „Einer mittelalterlichen Legende zufolge studierten die Talmud-Gelehrten Hanni und Hoschaia einmal wöchentlich den Sefer Yezirah und erschufen dabei, wenn sie die Buchstaben richtig kombinierten, ein dreijähriges Kalb, das sie anschließend zum Abendessen verspeisten“. (A. Manguel, S. 37)
Alberto Manguel kommentiert unser Bild, das einer mittelalterlichen Handschrift entstammt, in seinem großartigen Werk über Geschichte des Lesens mit den Worten „die Lektüre als Schöpfung und Gemeinschaft“. Zwei Rabbiner feiern gemeinsam das Passahfest. Der Tisch ist gedeckt, in den Händen, auf dem Schoß das Buch – vielleicht die Liturgie des Passahfestes, der Umfang lässt aber eher an eine biblische Schrift denken, womöglich ist es aber auch an der Sefer Jezira. Ihr Blick ist in die Ferne gerückt, sie werden Teil eines Geheimnisses, das die ganze Welt umfasst.
Tauchen wir für einen Moment in diese uns so fremde und doch so großartige wundersame Welt der Kabbala ein, folgen wir den 32 Bahnen der Weisheit. Die zehn Ziffern bilden die Grundlage wie auch die zweiundzwanzig Buchstaben des hebräischen Alphabets. Die zehn „Sepiroth“ (dieses Wort findet sich nur hier), wird meist als „Zahlen“ übersetzt wird, kann aber auch Zählen, oder auch Erzählen bedeuten und kann damit letztlich auch als „Buch“ übersetzt werden. Die zehn Zahlen beschreiben die abstrakte dialogische Struktur dieser Welt, das Vorher und Nachher, das Hohe und Niedrige, das Männliche und Weibliche sowie das Gute und Böse. Die zweiundzwanzig Buchstaben stellen alle realen Wesen und Dinge dar, aufgeteilt in den drei Instanzen des Kosmos: der Welt, der Zeit und des menschlichen Körpers.
Im Sefer Jezira wird, zum ersten Mal im jüdischen Denken, das Alphabet in die Schöpfung einbezogen. Der „Schlüssel zum Verständnis des Universums liegt in unserer Fähigkeit, die Buchstaben und Zahlen richtig zu lesen, ihre Kombination zu lesen, ihre Kombinationen zu beherrschen und somit einen kleinen Teil des gewaltigen Lebens zu erwecken – in Nachahmung des Schöpfers“. (A. Manguel, ebenda)
Es leuchtet schnell ein, dass den Buchstaben, mit denen der Gottesname gebildet wird, eine besondere Bedeutung zukommt. So erfahren das jod und das he, mit denen der Gottesname Jahwe beginnt und schließt, eine herausragende Stellung. In der rabbinischen Literatur wird dazu ausgeführt, dass der Heilige die kommende Welt mit jod erschuf und die jetzige Welt mit he. So jedenfalls wird der entsprechende Vers in der Schöpfungserzählung (1. Mose 2,4) gedeutet. Und das bedeutet, dass Gott zuerst die kommende Welt schuf, sie auf der einen Seite aufstellte und danach diese Welt schuf. Nun ist das jod der kleinste Buchstabe und deshalb „nimmt die kommende Welt nur derjenige in Erbbesitz, der sich selbst klein macht bei dem, der größer ist als er in Tora und Weisheit“ (K. Herrmann, S. 169) Mit Recht konstatiert der jüdische Kommentar, dass die Gerechten, denen die kommende Welt gehört, wenige sind.
Dem Midrasch zufolge, einer Sammlung gelehrter Auslegung der biblischen Schriften, empfing Mose auf dem Sinai zum einen die Zehn Gebote auf den Gesetzestafeln, daneben aber auch eine mündliche Auslegung. Des Tages soll er sich mit der schriftlichen Fassung beschäftigt haben und des nachts über die Deutung nachgedacht haben. Das ständige Bemühen um den Text zeichnet die jüdischen Gelehrten aus. Der Schriftsteller Franz Kafka nahm diese Tradition auf und entwickelte eine Art des Lesens, die ihm ermöglichte, Worte zu entschlüsseln und zugleich das Entschlüsselte in Zweifel zu ziehen. Zu einem Freund sagte er: „Man liest, um Fragen zu stellen.“
Der Schreibende braucht den Lesenden, ohne ihn gehen alle Worte ins Leere. Mit dem Lesen beginnt ein Prozess, der in unser Leben reicht, es bestimmen und verändern kann. So hat die Reformation begonnen, so setzt sie sich in die Gegenwart und so wird sie auch in die Zukunft reichen. Die Worte sind uns gesagt, wir buchstabieren sie neu in unser Leben hinein. So werden sie zu einer Wirklichkeit, die unseren Alltag bestimmt, die Trost und Hoffnung schenkt, Mut und Zuversicht und die uns in allem immer wieder Staunen lässt.
Die Beschäftigung mit der jüdischen Tradition lässt uns indes auch demütig werden. Rabbi Levi Yithak von Bersen, einer der großen chassidischen Lehrer des 18. Jahrhunderts, wurde gefragt, warum allen Traktaten im babylonischen Talmud die erste Seite fehle und man gezwungen sei, mit der zweiten zu beginnen. Er antwortete darauf: „Wie viele Seiten ein tüchtiger Mann auch immer gelesen hat, er soll nie vergessen, dass er noch nicht zur ersten Seite gelangt ist.“
„Glauben Sie an Wunder?“ fragte Jacoby den verunsicherten Rottenberg. Natürlich nicht und doch ist das Wunder geschehen. Es ist der Glaube an die Macht, die Wundermacht der Worte, die das vollbringt. In einem Hymnus aus der frühjüdischen Mystik wird erzählt, das Gott mit seinem Finger und einem flammenden Griffel auf die Krone des Metatron, dem im Kosmos eine herausragende Stellung zukommt und der den Thron besteigt, die Buchstaben schreibt, mit denen er die Welt geschaffen hat. Am Ende heißt es in dem Hymnus:
Jeder einzelne Buchstabe zuckt
ein ums andere Mal wie Blitze,
ein ums andere Mal wie Fackeln,
ein ums andere Mal wie feurige Lohe,
ein ums andere Mal wie das Aufgehen
von Sonne, Mond und Sternen.