Worte-Macher, Flüsterpost und Bergeworte

War es je anders, als dass Worte bergen? Sind es nicht die kurzen Gebete, das kleine Lied am Bett des Kindes? Ist es nicht die offene, freundliche und gute Nachricht des Arztes? Sind es nicht die wenigen lieben Worte spätabends im Bett von zweien, die müde vom Tag und noch belastet mit Fragen beieinander liegen?
Ich bin seit vielen Jahren immer wieder neu, ja eigentlich jeden Tag, auf der Suche nach diesem bergenden Wort. Es reicht nicht, wenn ich das Wort lese. Es reicht nicht, wenn ich es mir selbst vorlese. Das bergende Wort muss mir ein anderer sagen. Mich dabei vielleicht in den Arm nehmen. Nicht viele Worte. Und erst recht dürfen es nicht viele sein, die das Wort oder die Worte sagen oder singen. Das Wort braucht ein Gesicht, vielleicht auch zwei Arme und ein lauteres Herz, wenn es mich bergen soll. 

Es war nie anders, als dass Worte geborgen haben. Die Bibel ist ehrlich. Sie enthält bergende Worte. Anderes als Ehrlichkeit rettet sich wohl nicht über die langen Zeiten. Worte überleben Mauern. „Und als er aus dem Tempel ging, sprach zu ihm einer seiner Jünger: Meister, siehe, was für Steine und was für Bauten! Und Jesus sprach zu ihm: Siehst du diese großen Bauten? Nicht ein Stein wird auf dem andern bleiben, der nicht zerbrochen werde.“ (Markus 13,1.2) Heinrich Heine schreibt 1854 in seinen „Geständnissen“: „Jetzt würdige ch den Protestantismus ganz absonderlich ob der Verdienste, die er sich durch die Auffindung und Verbreitung des heiligen Buches erworben. Ich sage die Auffindung, denn die Juden, die dasselbe aus dem großen Brande des zweiten Tempels gerettet, und es im Exile gleichsam wie ein portatives Vaterland mit sich herumschleppten, das ganze Mittelalter hindurch, sie hielten diesen Schatz sorgsam verborgen in ihrem Getto, wo die deutschen Gelehrten, Vorgänger und Beginner der Reformation, hinschlichen um Hebräisch zu lernen, um den Schlüssel zu der Truhe zu gewinnen, welche den Schatz barg.“ (Heinrich Heine, Sämtliche Werke, hrsg. von Hans Kaufmann, Bd. 13, München 1964, S. 128.)

Ich will das Beschriebene nicht ausführen. Tempel, Paläste, Dome und Pyramiden sind anschauliche Symbole. Ohne Worte verlieren sie an Wert oder verbergen, anstatt zu bergen. Nicht anders übrigens die Deuteworte der Sakramente, die Bekenntnisse, die zentralen Gebete vom schma israel bis zum „Vater unser“, das immer wieder neu aufgenommene „Om“ in einem Kloster Tibets, der Ruf des Muezzin schon frühmorgens in Kairo, oder die bild- und wortreichen unterirdischen Gänge im ägyptischen Tal der Könige. Sie sind Schlüssel in den Tempel, Schlüssel in die Kirche, Schlüssel in den je geahnten und gehofften „Himmel“.
Wenn also Worte zur Heimat werden und das alte „Lästermaul“ Heinrich Heine mit dem Begriff des „portativen Vaterlands“ recht behält, wenn also Worte zur Heimat werden, dann sind nicht Steine gefragt und Wandmalereien, sondern Menschen.

Ich höre schon die Einwürfe, die Vorwürfe und kenne die Vorbehalte. Aber war es nicht so, dass du selbst dich „eingefügt“ hast in das eine oder andere Lied? Ist denn je anders „offenbar geworden, dass ihr ein Brief Christi seid“ (2. Kor 3,3) als durch Worte, Sätze, Gebete, Bekenntnisse, Einsprüche, Widersprüche, Lieder, Briefe, Gedichte, Kalendersprüche und Erklärungen? Nur so erklärt sich der Zuspruch, „lebendige Steine“ eines neuen Gottesvolkes zu sein. Mein so und so gelebtes Leben bedarf erklärender, deutender Worte, wenn es zumindest zum gelegentlichen „Vorbild“ für die Enkel taugen soll.
Die entscheidende Herausforderung als Kinder eines „portativen Vaterlands“ gilt uns selbst. Wir können uns nicht verstecken hinter Bildern, Mauern, Domen, Türmen und Kunstsammlungen. Das ist vergangen oder wird vergehen, auch wenn man heute noch „Reichtum“ danach bemisst. 

Wir treten in den Vordergrund und „outen“ uns als Menschen, die dem schmalen Evangelium trauen über „Kommen und Gehen.“ Über das Wesentliche. Auch über das „Bleiben“. Wir sind eingeladen, vernehmlich zu sprechen, nicht als Trägerinnen und Träger einer Flüsterpost, sondern als deutlich Sprechende. (Im Übrigen auch als Stimme der vielen, die keiner hört oder hören will.)

Wie auch immer man es formuliert: Wir bergen mit unserem Glauben, unserer Lebenserfahrung und unserer Last, noch deutlicher: auch mit unserem Zweifel – Gottes Wort. Die Reformatoren haben sich nicht auf die Schlosskirche zu Wittenberg oder eine der beeindruckenden Kirchen von Nürnberg, auch nicht auf den Hamburger Michel, auch nicht auf deine oder meine Kirche verpflichtet, sondern auf das Wort. „Sola scriptura“ („Allein die Schrift!“) war mehr als eine „Losung“, mehr als ein kämpferischer Bibelvers, das war eine Einstellung, eine Haltung, ein Grundsatz. Heute wissen wir, dass die bergenden Worte nicht vom Himmel gefallen sind, nicht von Gott dem einen oder anderen diktiert oder geflüstert worden sind. Die Flüsterpost hat ja ihren Sinn nur in dem verdrehten, missverstandenen Wort. Wie ein vom Regen durchweichter Kassiber führt das Flüstern meist in die Irre. Bestenfalls in ein gemeinsames Gelächter

Menschen stehen mit ihrem Leben, mit ihren Zweifeln und ihrem Glauben auf die Länge gesehen stabiler als die Sandsteinquader, die man aus dem Odenwald gehauen hat für die Dome am Rhein oder die „Quadersteine“ gehauen aus den Felsen Judäas, stabiler Prunk der Reichen und Könige in Juda. Das gilt natürlich auch für alle wesentlichen Worte wie Heines „Denk ich an Deutschland in der Nacht“, für die Märchen der Grimm-Brüder, für das Nibelungenlied oder ein Gedicht von Reiner Kunze.
Der Anspruch der „Tradition“ richtet sich an Menschen, die erzählen und singen oder schreiben. Sie mögen irren, sie mögen zweifeln. Doch dann findet sich links ein Mensch oder rechts; steht eine davor oder einer dahinter. Und erzählt, singt, betet, korrigiert oder ergänzt. Dann ist es gut. So werden Menschen zu einem Ort Gottes (Johannes 14,20). Und zweifelst du, hältst du dich für nicht „würdig“, – auch Jesus ist in einem „Stall“ geboren. Johannes Tauler soll im 14. Jahrhundert gesagt haben: „Das Pferd macht den Mist im Stall, und obgleich der Mist einen Unflat und Stank an sich hat, so zieht dasselbe Pferd doch den Mist mit großer Mühe auf das Feld, und daraus wächst sodann schöner Weizen und der edle, süße Wein, der niemals wüchse, wäre der Mist nicht da. – Also trage deinen Mist – das sind deine Gebrechen, die du nicht abtun, ablegen, noch überwinden kannst – mit Mühe und Fleiß auf den Acker des liebreichen Willens Gottes in rechter Gelassenheit deiner selbst. Es wächst ohne allen Zweifel in einer demütigen Gelassenheit köstliche, wohlschmeckende Frucht daraus.“
Das gilt auch für Sie, liebe Abonnentinnen und Abonnenten als Überbringerinnen und Überbringer des bergenden Wortes, vor allem dann, wenn Sie einmal gedacht haben: „Heute habe ich aber einen Mist erzählt.“

Gerhard Engelsberger

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