Weigere dich nicht, dem Bedürftigen Gutes zu tun, wenn deine Hand es vermag.
Sprüche 3,27
Ein Tag wie jeder andere. Mit weiten, eiligen Schritten durchschreitet sie die Bahnhofsvorhalle Richtung Ausgang. Draußen Getümmel. Mittendrin der Stand einer Hilfsorganisation. Von Plakaten blicken ihr große weite Kinderaugen entgegen. Sie tritt ins Freie. Ein Mitarbeiter der Hilfsorganisation visiert sie an. Er wirkt nett. Trotzdem kommt lautlos über ihre Lippen: Bitte, bitte sprich mich nicht an. Ein Bibelvers schießt ihr durch den Kopf. Im Buch der Sprüche heißt es: Weigere dich nicht, dem Bedürftigen Gutes zu tun, wenn deine Hand es vermag (Spr 3,27). Müsste sie als Christin nicht stehen bleiben? Was soll sie tun? Sie hat es eilig. Außerdem ist sie knapp bei Kasse. Aber ist es nicht ihre Pflicht, zu helfen? Was sind ihre Sorgen im Vergleich zu den Sorgen der Kinder, die ihr vom Plakat entgegenblicken? Zögernd geht sie weiter.
Solch oder eine ähnliche Situation kennt jeder. Wobei der Bedürftige nicht immer ein Kindergesicht mit großen weiten Augen hat. Manchmal hat er auch das Gesicht eines Obdachlosen, der ein Schild mit der Bitte um Hilfe hochhält oder das Gesicht einer Frau, die an der Haustür klingelt. Wie soll man sich als Christ in solchen Situationen verhalten? Ist Helfen, Nächstenliebe nicht christliche Pflicht? Aber was ist, wenn man keine Zeit hat, wenn man vielleicht gerade selbst in finanziellen Sorgen steckt oder wenn man in den letzten Tagen schon dreimal stehen geblieben ist? Muss man auch beim vierten Mal den Geldbeutel zücken? Entscheidet man sich dagegen, bleibt das schlechte Gewissen. Dem Blick des Mitarbeiters von der Hilfsorganisation versucht man auszuweichen. Möglichst schnell vorbeigehen. Nur nicht ins Gespräch kommen. Um den Obdachlosen macht man einen weiten Bogen. Die Haustür öffnet man einfach nicht. Aber gibt es nur diese zwei Möglichkeiten: immer und überall helfen – oder schlechtes Gewissen?
Hört man genau hin, gibt der Bibelvers aus dem Buch der Sprüche selbst Rat. Dort heißt es erstens: Weigere dich nicht, dem Bedürftigen Gutes zu tun (Spr 3,27). Von Geld ist nirgends die Rede. Trotzdem neigen wir dazu, Hilfe mit „finanzieller Unterstützung“ gleichzusetzen. Doch Hilfe kann viele Gesichter haben. Außerdem heißt es zweitens: Weigere dich nicht, dem Bedürftigen Gutes zu tun, wenn deine Hand es vermag (Spr 3,27). Dass wir immer und überall helfen müssen, davon ist nicht die Rede. Wir sollen nach unseren Möglichkeiten helfen. In der Bibel veranschaulicht das eine Erzählung aus der Apostelgeschichte. Dort wird berichtet, wie die Jünger Johannes und Petrus durch Jerusalem laufen und vor dem Tempel einem gelähmten Mann begegnen, der um Almosen bittet. Als er Johannes und Petrus anspricht, antwortet ihm Petrus: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher (Apg 3,6). Johannes und Petrus hatten kein Geld. Aber sie haben dem gelähmten Mann nach ihren Möglichkeiten Gutes getan: Sie haben ihn geheilt. Für den Mann war das vermutlich viel mehr wert als alles Geld dieser Welt. Es geht nicht darum, Geld zu geben. Es geht darum, nach den jeweils eigenen Möglichkeiten zu geben. Es geht darum zu helfen, wie und wenn unsere Hand es vermag. Jeder hat Begabungen und Möglichkeiten, mit denen er Gutes tun kann. Jeder auf seine ganz eigene wertvolle Art und Weise. Der eine hilft mit einer Spende, der andere nimmt sich Zeit für ein Gespräch, wieder ein anderer engagiert sich ehrenamtlich. Gott fordert nicht, dass wir über unsere Möglichkeiten hinaus gehen. Sollte es an einer Stelle unsere Möglichkeiten sprengen, müssen wir kein schlechtes Gewissen haben.
Sie betritt den Bahnhofsvorplatz und geht weiter. Der Stand von der Hilfsorganisation rückt näher. Vielleicht bleibt sie heute stehen und hinterlässt eine Spende. Vielleicht schenkt sie dem Mitarbeiter ein freundliches Lächeln und hilft bei nächster Gelegenheit an anderer Stelle.