AlternativpredigtGeh aus, mein Herz, und suche Freud - Liedpredigt EG 503

In der Residenzstadt Berlin ist der Wiederaufbau in vollem Gange. Noch kurz zuvor gleicht Berlin einer Geisterstadt. Ein Drittel der Häuser steht leer, die vom Krieg Übriggebliebenen leiden an Leib und Seele, auch die Pfarrer haben die Flucht ergriffen und die Gotteshäuser und die ihre Schäfchen ihrem Schicksal überlassen. Der Westfälische Friede hat 1648 endlich Schluss gemacht mit dem Gemetzel nach dreißig Kriegsjahren. Paul Gerhardt ist Anfang vierzig, als er den Krieg aus den Kleidern schütteln kann. Die obersten Schmutzschichten mögen von ihm abfallen, aber was an Bildern von grausam Gemeuchelten, siechendem Vieh und am Krieg irre gewordenen Menschen an seiner Seele hängen geblieben ist, wird er nur schwer los. Im noch überschaubaren Berlin, wo Paul Gerhardt zunächst als Privatlehrer, später als Pfarrer Anstellung findet, wird Stein auf Stein gesetzt, fahren wieder Kutschen durch die schlammigen Straßen, die noch wenig davon ahnen lassen, wie weit sich die Stadt einmal ausdehnen wird.

Wiederaufbau: Das heißt für den Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, ein Hoffnungszeichen zu setzen. Er lässt Linden pflanzen, wo noch heute die Prachtallee „Unter den Linden“ verläuft, und er lässt den Schlossgarten und den Grunewald gestalten. Er bestellt berühmte Gartenarchitekten, die meisten haben ihr Handwerk in Holland gelernt. Sie bringen exotische, kostbare Blumenzwiebeln mit, die fast mit Gold aufzuwiegen sind: Tulpen in allen Farben und Narzissen.

Paul Gerhardt wird hin und wieder zugeschaut haben, wie fleißige Hände nach und nach den Wildwuchs in den Grünflächen domestiziert, Blumenbeete in barocker Üppigkeit bepflanzt, schnurgerade Baumalleen angelegt und Brunnen aufgestellt haben. Vielleicht kommt ihm dieser Neuanfang noch unwirklich vor. Vielleicht ist sein Herz noch schwer, so dass er es anstupsen muss, damit es sich für die Inspiration durch die farbenfrohen Gärten öffnen kann: Los doch, geh aus, mein Herz, und suche Freud! Er kennt das, die Lust am Schreiben kommt beim Schreiben, so wie der Appetit beim Essen kommt. Er hat noch immer Trost gefunden, in der Poesie, in der Musik, in den Schriften, in Gottes wunderbarer Schöpfung. Jetzt ist er bereit zu genießen, was neumodisch „Lustwandeln“ heißt. Also schlendert er durch die Anlagen, sperrt Augen und Ohren auf, nimmt Papier und Stift zur Hand und notiert die ersten Strophen des „Sommergesangs“, die ihm in den Sinn kommen.

Geh aus, mein Herz, und suche Freud
in dieser lieben Sommerzeit an deines Gottes Gaben;
schau an der schönen Gärten Zier und siehe,
wie sie mir und dir sich ausgeschmücket haben.
Die Bäume stehen voller Laub,
das Erdreich decket seinen Staub mit einem grünen Kleide;
Narzissus und die Tulipan, die ziehen sich viel schöner an
als Salomonis Seide.

Einen kleinen Seitenhieb auf die Obrigkeit hat er in den harmlosen Zeilen versteckt. Die Narzisse steht im Barock sinnbildlich für den Künstler. Paul Gerhardt macht gleich zu Beginn seines Sommergesangs, der am Ende fünfzehn Strophen umfassen wird, klar: Seine Lieder dienen nicht den weltlichen Herren, auch wenn er manchmal für sie Auftragslyrik schreiben muss. Erst recht nicht seine geistlichen Lieder, für die sein Herz am meisten schlägt. Die gehören Gott allein.
Dann greift der Dichter in die Vollen und lässt auf seinem Gartenspaziergang ganze Scharen biblischer Tiere auftreten: die Lerche und die Taube, die Nachtigall und die Glucke, den Storch und die Schwalbe, den Hirsch und das Reh. Da wird jubiliert und gegurrt, tiriliert und tremoliert, geschmettert, getrillert, geflötet und gezwitschert, geröhrt und gefiept, dass es eine Lust ist. In bunten Bildern erzählt Paul Gerhardt die Schöpfungsgeschichte und verpackt sie in die ersten sieben Strophen – so viele Strophen wie der biblische Mythos an Schöpfungstagen zählt. Man sieht ihn vor sich, wie er vor den Bienenstöcken verweilt und dem emsigen Treiben der Tierchen zusieht, die für den labenden Honig sorgen:

Die unverdroßne Bienenschar
fliegt hin und her, sucht hier und da ihr edle Honigspeise
Dann wandert er zu den Weinstöcken weiter, die für Gerhardt, den Kirchendichter, gar nicht anders zu denken sind denn als Sinnbild für Jesus:
 … des süßen Weinstocks starker Saft
bringt täglich neue Stärk und Kraft
in seinem schwachen Reise.

Stärke und Kraft. Das ist es, was die Menschen brauchen. Paul Gerhardt weiß das. Wie sollen sie auch alleine die Bilder loswerden, die ihn doch selbst noch immer quälen? Der große Krieg hat alles in den Schatten gestellt, was die Menschen an kriegerischen Auseinandersetzungen in der Neuzeit gewohnt waren. Oft wusste man nicht mehr, wer gegen wen zu Felde zog, wer Freund und Feind war in diesem Krieg, in dem alle Parteien meinten, Gott an ihrer Seite zu haben. Je besser die Städte befestigt waren, desto mehr richtete sich die Wut der Brandschatzer – viele von ihnen traumatisierte Kindersoldaten – gegen die Dorfbevölkerung. Wer hingeschlachtet worden war, wurde verscharrt. Pest, Cholera und Ruhr taten ihr Übriges. Alle Regeln und Rituale, die das Leben geordnet hatten, galten nicht mehr: keine Aussegnung, keine Leichenpredigt, ein sang- und klangloser Abschied. Paul Gerhardt mag damals gedacht haben, dass es nicht schlimmer kommen kann. Wir Heutigen wissen, dass Krieg und Vernichtung in den darauffolgenden vier Jahrhunderten immer wieder und immer verheerender möglich waren. Man könnte darüber verzweifeln.
Wie geht es an, dass der Dichter so nah am Krieg und an seiner eigenen Leidensgeschichte – er ist mit zwölf Jahren Vollwaise geworden, war zwar nicht arm, hat durch den Krieg dennoch Hunger und Not erlebt – ein scheinbar so fröhliches Lied dichtet? Paul Gerhardt ist nicht nur ein begabter Poet und Theologe, er ist auch ein talentierter Seelsorger. Er kennt die Wirkung von Musik auf Seele und Geist, er weiß, dass Worte und Gedanken durch Musik in Schwingung versetzt werden und es dann viel leichter haben, ins Herz zu dringen. Deshalb schreibt er auch nicht nur Lyrik, sondern er will, dass seine Texte gesungen werden. Er will, dass die Worte seiner Dichtung als Lieder von den Lippen kommen, dass sich auf seine Verse Zwerchfelle zusammenziehen, dass Luftsäulen ins Schwingen kommen und der Gesang Glücksgefühle auslöst.

Er kann noch nicht wissen, dass die Noten seines Sommergesangs nach mehreren, mittelmäßigen Vertonungen schließlich August Harder (1775–1813) in die Hände fallen, der mit seiner eingängigen Komposition dafür sorgen wird, dass Gerhardts Lied endgültig seinen Siegeszug im deutschsprachigen Raum antritt. Ein Glücksfall, denn Paul Gerhardt ist daran gelegen, seine Lieder unter das nach Seelennahrung hungernde Kirchenvolk zu bekommen. Viele davon sind Trostlieder, mal wehmütig im Ton, mal fröhlich. Menschen, die schon einmal getrauert haben, wissen, dass sie Musik für all die wechselnden Stimmungslagen der Trauer brauchen. „Was sollen wir predigen?“, wurde Jochen Klepper, ein anderer Kirchenlieddichter, der ein schweres Schicksal erlitten hat, kurz vor seinem Tod gefragt. Er hat geantwortet: „Trost, immer wieder Trost.“ So hätte vielleicht auch Paul Gerhardt geantwortet und sein Lied vom Sommer, von der Lerche, der Nachtigall, den Schafen und dem Hirten als sein vielleicht schönstes Trostlied bezeichnet.

Es sind nicht nur die anrührenden, herzerfrischenden Sprachbilder in seinen Versen, die „Geh aus, mein Herz“ so tröstlich machen. Es ist auch die Glaubensgewissheit, die Paul Gerhardt in diesem Lied zum Ausdruck bringt und die nachgerade wie eine Zumutung erscheint angesichts der schlimmen Erfahrungen, die er gemacht hat und die ihn noch erwarten. Zu der Zeit, als er das Lied schreibt, ahnt er nicht, dass er einmal vier seiner fünf Kinder wird begraben müssen.

Paul Gerhardt wird nicht müde, Gott zu loben und darauf zu hoffen, dass der schöne Garten, den er in seinen Versen besingt, nicht mehr als ein fahler Abglanz jenes himmlischen Gartens ist, den die Menschen nach ihrem Tod erwarten dürfen: Christi Garten zu Füßen des güldenen Schlosses, in dem Gott daselbst thront.

Ich selber kann und mag nicht ruhn,
des großen Gottes großes Tun erweckt mir alle Sinnen;
ich singe mit, wenn alles singt,
und lasse, was dem Höchsten klingt,
aus meinem Herzen rinnen.

Ach, denk ich, bist du hier so schön
und läßt du’s uns so lieblich gehn auf dieser armen Erden:
was will doch wohl nach dieser Welt
dort in dem reichen Himmelszelt
und güldnen Schlosse werden!

Welch hohe Lust, welch heller Schein
wird wohl in Christi Garten sein!
Wie muss es da wohl klingen, da so viel tausend Seraphim
mit unverdroßnem Mund und Stimm
ihr Halleluja singen.

Es ist Sommer und ich spaziere – nein, ich lustwandle! – durch den Barockgarten der benachbarten Abtei. Ein Hauch von Flieder liegt in der Luft, links und rechts von mir brummt es in den blühenden Sträuchern. Leise trällere ich die Melodie von Gerhardts Sommergesang vor mich hin. Die Sonne beginnt zu stechen. Es ist heiß. Zu heiß. Meine Freude wird getrübt. Die Sonne scheint, und ich denke an die Erderwärmung. Die Bienen summen, und ich denke an das Artensterben. Wie kann ich mich noch freuen an der „lieben Sommerzeit“, wenn mir unweigerlich der Klimawandel in den Sinn kommt?

Ich weiß, dass Paul Gerhardt und seine Zeitgenossen auch mit dem Klima zu kämpfen hatten. Sie lebten im 17. Jahrhundert in einer „Kleinen Eiszeit“: bitterkalte Winter, nasse Sommer. Die Weizenkörner verfaulten an den Ähren. Die ausgehungerten Menschen waren verzweifelt, Misstrauen und Weltuntergangsstimmung griffen um sich. Und dennoch hatte Paul Gerhardt ein Auge für die Schönheit des Sommers, zauberte er dem Kirchenvolk ein Lächeln auf die Lippen mit seinem Sommergesang.
Ich möchte gerne von ihm lernen: wie ich durch Krisen hindurchkomme, ohne den Mut zu verlieren. Wie ich mir auch in schwierigen Zeiten die Fähigkeit bewahre, die kleinen Glücksmomente zu genießen. Ich würde auch gerne so glaubensstark werden wie Paul Gerhardt. Dabei tut es mir gut zu spüren, dass auch er um diese Stärke immer wieder bitten muss – weil Glaube ein Geschenk ist, das nicht einfach so vom Himmel fällt: „Mach in mir deinem Geiste Raum, dass ich dir werd ein guter Baum, und laß mich Wurzel treiben.“
Ich lasse mich nieder auf einer Bank im Schatten. Hitze und Kühle, Licht und Schatten, sie gehören zum Leben. Ich darf Ja zu diesem Leben mit all seinen Wundern sagen und das, was schwer daran ist, getrost in die Hände des Schöpfers legen. In mir klingt er nach, der Sommergesang des Paul Gerhardt, der so viel mehr ist als ein fröhliches Sommerlied.

Erwähle mich zum Paradeis
und lass mich bis zur letzten Reis
an Leib und Seele grünen,
so will ich dir und deiner Ehr
allein und sonsten keinem mehr
hier und dort ewig dienen.

Kollektengebet:

Gott, es ist Sommer.
Ich wärme meine Seele an der Sonne.
Ich kühle meine Haut am Wasser des Bachs.
Ich juble vor Freude.
Gott, es ist Sommer.
Ich bin einsam, und die Sonne lacht mich aus.
Ich bin traurig. Die Blumen sind bunt, meine Gedanken sind grau.
Wie kann Sommer sein, wenn die Welt trostlos ist?
Gott, schenk mir Lieder
von Licht und von Schatten,
Lieder, die mich beflügeln,
und Lieder, die mich trösten.
Lass mich dir singen ein neues Lied,
denn du tust Wunder.

Fürbitte:

Gott, mir ist bang um deine Schöpfung.
Ich sorge mich um die Wälder, die Tiere, die Luft.
Lass mich nicht verzagen
und zu denen gehören,
die die Hoffnung schon aufgegeben haben.
Ich will an die Zukunft glauben.
Hilf meinem Glauben.

Psalmvorschlag:  Psalm 98 
Evangelium:  Matthäus 6,19–34 
Lesung:  1. Mose 1,1–25 
Liedvorschläge:  452 (Er weckt mich alle Morgen) 
  503, 1.2.8–10.14 (Geh aus, mein Herz) 
  456 (Auf Aufgang der Sonne) 
  347 (Ach, bleib mit deiner Gnade) 
  171 (Bewahre uns, Gott) 
Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

Die Pastoralblätter im Abo

Gottesdienste komplett und fundiert vorbereiten.

Zum Kennenlernen: 2 Ausgaben gratis

Jetzt testen