3. September 2023
13. Sonntag nach Trinitatis
Christus spricht: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
Matthäus 25,40b
Wir spenden Geld, sammeln Kleidung und Briefmarken, arbeiten ehrenamtlich im Hospiz und in der Flüchtlingshilfe. Wir kaufen dem Wohnungslosen eine Zeitung „Asphalt“ ab.
„Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“
Ist es das, was Jesus meint mit den geringsten Brüdern? Wie hat er es selbst verstanden? Er hat sich vor die Hure gestellt, ist bei dem Zöllner eingekehrt, hat Kranke geheilt. Den Zöllner hat er oben im Baum in seinem Blätterversteck erblickt und hervorgeholt. Er hat sich nicht gescheut, die Verachtung der sogenannten „guten“ Gesellschaft auf sich zu ziehen. Ich glaube, Verachtung ist ein Schlüsselwort. Christus selbst ist der Allerverachtetste geworden, bespuckt und geschlagen. Er wurde erniedrigt und starb den schändlichsten Tod. Seine Menschenwürde galt nichts.
Hätte ich selbst den Mut und das Herz gehabt, gegen die Macht der Soldaten, gegen die Verachtung der „Etablierten“ aufzustehen und für Christus einzustehen? Oder hätte ich ihn verleugnet wie Petrus, geschlafen und nicht gewacht? Gehöre ich nicht etwa selbst zu den geringsten Brüdern und Schwestern, für die Christus gelebt hat und gestorben ist? Ich bin nicht anders als sie. Es gibt Menschen, die weniger Glück hatten im Leben, die von der Hand in den Mund leben, ohne Wohnung sind, wenig Liebe und Achtung erfahren. Aber sie haben Ängste wie ich, zeigen Schwäche wie ich, möchten geliebt werden wie ich. Was wir füreinander tun ist ein Liebesdienst für Christus, „…das habt ihr mir getan.“
Weil das so ist, kann es nur eine lebenslange Aufgabe sein, acht zu haben auf die, die meine und unsere Hilfe brauchen. Ich bin wie sie. Ihr seid wie sie. Menschen von Gott geschaffen und geliebt ohne Unterschied. Ich möchte niemanden übersehen, auch und vor allem nicht den, der in meinen Augen Beachtung nicht verdient, weil ich es auch nicht selbst verdienen kann und wie jeder Mensch angewiesen bin auf die Liebe, die Barmherzigkeit und die Vergebung Gottes.
10. September 2023
14. Sonntag nach Trinitatis,
Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.
Psalm 103, 2
Mir ist nicht nach Loben zumute angesichts der ungeheuerlichen Kriege und Katastrophen. Tausende Menschen auf der Flucht, erschlagene Menschen in ihren Häusern, die eben noch ein ganz normales Leben hatten, nun verschüttet unter Beton. Herumirrende Kinder, Männer und Frauen, die mit bloßen Händen in den Trümmern nach ihren Lieben suchen. Unfassbare Todeszahlen. Und dann Despoten, die mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen.
Und doch gibt es mitten in allem Elend Spuren von Hoffnung. Menschen, die unermüdlich helfen, sich gegenseitig trösten, beieinanderbleiben, Decken teilen, eine warme Suppe ausgeben, sich an Händen halten, miteinander weinen. Mir ist noch ein erschütterndes Bild vor Augen. Der Vater, der die Hand seiner toten Tochter hält. Sie wurde in ihrem Bett von der herabstürzenden Betondecke durch ein Erdbeben erschlagen. Vielleicht hat sie noch gelebt. Hilfe gab es nicht mehr. Aber der Vater hält ihre Hand. Er lässt sie nicht los. Sie ist nicht allein. „Vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ O Gott, wie soll das gehen? Welchen Trost kann es überhaupt geben? Und doch! Wir haben so einen Gott, der unsere Hand hält, der uns nicht loslässt, auch wenn uns die Verzweiflung packt und wir nicht weiterwissen.
Die kranke Nachbarin ist gesund geworden, die zerstrittenen Geschwister haben sich versöhnt. Aus den Trümmern wird ein Baby lebend geborgen. Blumen blühen durch den Beton, die geschundene Natur ernährt uns trotzdem. Die Sonne wärmt die Frierenden, der Regen wässert die Erde. Menschen schenken sich ein Lächeln und fassen sich an den Händen. „Seele, vergiss es nicht.“ Wir weinen und wir singen. Wir klagen und wir loben. Wir lieben und wir trösten. Wir hören nicht auf zu singen.
17. September 2023
15. Sonntag nach Trinitatis,
Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch.
1. Petrus 5, 7
Gerade eben haben sie die Diagnose bekommen. Ihre Tochter hat einen Hirntumor. 11 Jahre alt ist sie. Sie ist doch so ein fröhliches Kind. Sie geht gerne zur Schule und noch lieber zum Volleyball. Sie hat beste Freundinnen, eine verschworene Clique. Sie schauen gerne „Germany‘s best model“ im Fernsehen und machen auch schon mal erste Schminkversuche. Ihre geheimsten Gedanken vertraut sie ihrem Tagebuch an. Manchmal auch ihrer besten Freundin. Das Leben ist schön, meistens jedenfalls. Wenn nur nicht diese heftigen Kopfschmerzattacken wären! Arztbesuch. Die Diagnose! Es kann doch nicht sein, dass jetzt so eine bösartige Krankheit in dieses junge Leben einbricht! Die Eltern verzweifeln. Das Mädchen weint und versteht nicht, was da plötzlich in ihrem Leben passiert. Wie soll ein Kind verstehen, was Sterben bedeutet? Vielleicht stimmt die Diagnose nicht! Eine rastlose Suche nach alternativen Antworten beginnt. Aber der Tumor ist da. Der freundliche Arzt erklärt alles geduldig. Es gibt eine Hoffnung. Vielleicht ist er operabel, und die Tochter kann geheilt werden. Die Eltern, Geschwister, Großeltern, Freundinnen und Freunde, alle, die dieses Mädchen kennen und lieben, durchleben ein Wechselbad von Trauer, Verzweiflung und Hoffnung. Halten sich an den bekannten Strohhalm, aber er ist eben nur aus Stroh und sehr zerbrechlich. „Alle eure Sorge werft auf ihn.“ Wohin? Auf ihn. Das ist kein Strohhalm. Es ist ein Rettungsanker, nicht in dem Sinne, dass jetzt alles gut wäre. Die Sorgen bleiben, die Hoffnung auch, aber wir sind nicht allein damit. Wir können unsere Ängste Gott anvertrauen. Ich kann sie auf Gott werfen. Darin steckt noch viel Verzweiflung. Wegwerfen! Loswerden! Loslassen! Es kostet Überwindung, ganz sicher sogar, die Ängste, die Sorgen loszulassen. Ich sehe mich auf dem Sprungbrett und möchte hineinspringen in den dunklen See. Ich traue mich nicht. Es ist so hoch. Und dann nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und springe. Ich tauche wieder auf. Gleich noch einmal. So kann es sein, meine Sorgen auf Gott werfen. Noch einmal und immer wieder. Er trägt sie mit.
24. September 2023
16. Sonntag nach Trinitatis,
Christus Jesus hat dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht durch das Evangelium.
2. Timotheus 1,10b
„… dem Tode die Macht genommen“? Darüber steht für mich erst einmal ein großes Fragezeichen. Wir sind umgeben von Todesnachrichten, die uns zutiefst erschrecken. Kriege, Erdbeben, Überschwemmungen, Hurricanes, Hungerkatastrophen, Pandemien. Die Zerstörung der Umwelt, die Klimakatastrophe sind fast in den Hintergrund geraten. Letzte Generation. Verzweifeltes Aufbäumen junger Menschen, Protestaktionen. „Dem Tode die Macht genommen“! „Ich glaube das nicht! Das sind doch Vertröstungen der Kirche!“ „Da hilft doch nur eigenes Handeln. Wir müssen etwas tun. Auf uns kommt es an, und wenn es sein muss, mit radikalen Mitteln und Aktionen!“ Wir sind umgeben von Skepsis, von Aggressivität. Letzte Generation! Das sind doch alles keine Spinner oder Phantasten. Es sind Menschen, junge und alte, mit großer Sorge. Verstehen kann ich das. Nicht jede Aktion, doch die Sorge, die dahintersteht. Aber ich glaube, das ist nicht alles. Es gibt mehr.
Seit es diese Schöpfung gibt, sind Menschen verzweifelt und voller Angst gewesen. Sie mussten einer Realität in die Augen sehen, die nur Dunkles hervorbrachte, die sie nicht verstanden und der sie ohnmächtig gegenüberstanden. Trotzdem haben viele wieder Hoffnung geschöpft, weil sie in tiefster Not auf den gekreuzigten und auferstandenen Christus geschaut haben.
Sein Leben vor ihren Augen, wie er Menschen beigestanden hat, die von niemandem geliebt oder überhaupt nur wahrgenommen wurden. Er hat Licht in das Leben der Menschen gebracht. Am Kreuz sehen wir, dass er die Schuld der ganzen Menschheit, alles Leid auf sein Herz genommen hat und den schändlichsten Tod gestorben ist. Für uns. Wie soll man das nur verstehen! Aber er ist nicht im Tod geblieben. Wir feiern seine Auferstehung, die Mut macht, sich aus dem Leid, aus seinen Ängsten zu befreien. Eher sich befreien zu lassen. Die auch Mut macht zu verstehen. Christus hat dem Tod alle Macht genommen. Er sagt: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben.“ Auch wenn es unser Verstand nicht fassen kann. Dazu brauchen wir die Hilfe seines Heiligen Geistes. Daran glaube ich.