Sehr geehrter Herr! Lieber Vater!

Es gibt großartige Zeichentrickfilme. Zu den besten gehört Jimmy Murakami’s „Wenn der Wind weht“.
Dieser Film erzählt von Jim und Hilda. Sie leben in der Nähe von London. Sie erfahren über Radio, dass eine Atombombe abgeworfen werden soll. Das geschieht dann auch. Akribisch nach Vorschrift der Regierung und des Landratsamts bereiten sie sich auf den Abwurf vor, bauen im Haus eine Selbstschutzhütte, vertrauen sich den Vorschriften an und sterben – als einzig Überlebende – einen tragischen, langsamen Tod.
Der Betrachter wird mehr und mehr einbezogen, hat Mitleid mit den beiden lieben Rentnern, ihrer Naivität und ihrem Glauben an Hilfe von außen.
Der Film endet mit dem Psalm 23, von Jim in Bruchstücken gebetet, der eigentlich vergessen hatte, wie man betet. Er beginnt sein Gebet infolge mangelnder Übung zuerst mit „Sehr geehrter Herr“.
Hilda korrigiert ihn: „Lieber Vater“.
Nein, es gibt kein happy-end. Der vergessene und dann doch wieder mühsam zusammenbuchstabierte Gott greift nicht rettend ein.
Ich kann tausend Erklärungen finden, warum die Kraft des Gebetes erlahmt und warum Gott kein Automat für die Befriedigung meiner Wünsche ist. Aber Jesus nennt ihn doch Vater und meint, ein Vater gäbe seinem Kind, das um Brot bittet, keine Schlange. Nähme den Sohn, egal, wohin der sich verirrt hatte, mit einem Freudenfest auf. Warum dann nicht Jim und Hilda? Die stotternd das verlernte Gebet mit „Sehr geehrter Herr“ beginnen und dann den Bogen schlagen zum „lieben Vater“?

Märchen beginnen oft mit den Worten: „In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König …“
Eine wunderbare Sprache für ein Kind. Ein Kind lebt in der Welt der Wünsche. Es sieht einen Baum und wünscht, Vogel zu sein oder Eichhörnchen. Es sieht ein Schiff und wünscht sich, Kapitän zu sein. Es verkleidet sich und ist Prinzessin oder Indianer. Es spielt Vater und Mutter und wünscht sich eine heile Familie. Es spielt Arzt und heilt alle Gebrechen. Und spielend ist das gebrochene Bein wieder gesund, das gebrochene Herz wieder fröhlich und Feinde werden Freunde.
In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat …

Nun hat das Leben aus uns Kindern samt und sonders Erwachsene gemacht, hat Wunden geschlagen, hat uns die Flausen ausgetrieben. Wir haben gelernt, was geht und was nicht geht.
Ist uns mit den „alten Zeiten“ auch das Beten verloren gegangen? Beten heißt Wünsche haben. Beten heißt Visionen haben, Träume; Fenster, Türen unserer Seele.
Wer heute die Zeitung aufschlägt, die Nachrichten hört, Politik und Wirtschaft verfolgt hört täglich die Lektion: „Das war einmal …“ Manche sagen: „Ich will nichts mehr hören und sehen!“
Wir haben die Lektion gelernt. Wir stutzen die Wünsche zurecht.
Das ist „ein frommer Wunsch“ sagt man, und meint: Das geht nicht.
„Ihr Wort in Gottes Ohr“, sagt man, und meint: Ich sehe dafür keine Chance.
Wie können Menschen beten, denen das Hören und Sehen vergangen ist?

Jesus sagt: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er‘s euch geben.
Wir sollten diese Zusage nicht einschränken und sagen: Damit ist nicht die Gesundheit, das hohe Alter, die anhaltende Liebe, der Frieden, das Dach über dem Kopf und das Essen auf dem Tisch gemeint. Damit ist das alles nicht gemeint, sondern das Heil im Jenseits.
Nein. Genau das ist gemeint:
Eine verkrüppelte Frau geht aufrecht.
Ein Totgesagter lebt.
Ein Stigmatisierter kann wieder durch die Straßen gehen, ohne Sorge um Getuschel und böse Blicke.
Ein Flüchtling findet Heimat.
Ein Hungernder wird satt und lebt.
Genau das ist gemeint.
Es liegt auch an uns, ob das wie ein Märchen klingt – wie ein Märchen eben aus jenen längst vergangenen Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat. Jetzt liegt es auch an uns, ob die Worte Jesu aus dem Johannesevangelium wie Worte aus einem Märchen klingen, oder ob sie nicht doch den Boden bereiten für unsere Zukunft.
In meinem Buch „Gebete für den Gottesdienst“ (Stuttgart 2002) habe ich als Vorspruch geschrieben:

Unserer Hände Werk
unser Handwerk
eine kleine Welle
im Abendmeer.

Unsere Worte
unser Gebet
ein Flügelschlag
im Schatten der Ewigkeiten.

Unser Leben
ein Blick
hinter den Horizont des Endlichen
in die Weite des Ewigen.

Du bleibst
wir gehen
und durften gestalten
zu unserer Zeit

Ich bete immer angesichts des Wassers, das aus Quellen strömte. Bete immer aus Herkunft. Zwinge mit meinem Gebet nicht die Macht um Veränderung und Begradigung des Kommenden. Bleibe verbunden. Das soll reichen.

Gerhard Engelsberger

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