Die Güte des HERRN ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.
Klagelieder 3,22–23 (L)
Hoffnung inmitten von Leid und Schmerz. Hoffnung, obwohl Jerusalem und der Tempel zerstört sind. Hoffnung trotz des Exils. Hoffnung inmitten der Trümmer. Hoffnung mitten im Tod. Hoffnung gewachsen aus Klage und Trauer.
Da war ein Mensch, der den Untergang Jerusalems im Jahr 587 v. Chr. miterlebt hat. Ein Mensch, der alles verloren hat. Ein Mensch, der hadert und trauert. Sein Leid buchstabiert er in der Reihenfolge des hebräischen Alphabets in den ersten vier Klageliedern regelrecht durch. Klagen sozusagen von A bis Z.
51 Strophen der Trauer und des Klagens, um zur Gewissheit zu gelangen, dass Gottes Barmherzigkeit noch kein Ende hat und dass sie alle Morgen neu ist.
Bestimmt gehen mir Klagegebete manchmal leichter von den Lippen als Lobgebete. Trotzdem verstehe ich die Klagelieder als eine wunderbare Einladung, mir Zeit zu nehmen, das Verlorene zu beklagen, und meiner Trauer Raum zu geben. Ich muss mich nicht dafür schämen, dass meine Tränen fließen. Ich darf den Verlust beweinen, mich in Frage stellen, meine Verantwortung überdenken, mir Verfehltes eingestehen. Geduld und Vertrauen, auch von meinem sozialen Umfeld, helfen mir dabei, das Tal des Verlustschmerzes zu durchwandern.
Die Verse, die dem Monatsspruch vorhergehen, zeigen deutlich, dass der Weg durch das Tal der Klage und der Trauer kein Umweg ist, sondern dass er notwendig ist, um eine hoffnungsvolle Haltung zu finden: „Der Gedanke an meine Not und Verlassenheit macht mich bitter und vergiftet mein Leben. Trotzdem muss ich ständig daran denken, und das wühlt mich bis ins Innerste auf. Deshalb will ich in mich gehen und meine Hoffnung auf den Herrn setzen“ (Basisbibel, Klagelieder 3,19–21).
In schweren Phasen meines Lebens musste ich meine Trauer und Klage über Wochen und Monate hinweg durchbuchstabieren. Der Weg war mühsam und steinig. Und dann ganz plötzlich war da die Erleichterung und Gewissheit: Ich bin nicht allein. Gott begleitet und trägt mich. Er ist da, gestern, heute und morgen. Und die Hoffnung wuchs wieder: „Die Güte des HERRN ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß“.
Das Buch der Klagelieder erscheint mir plötzlich ganz praktisch angelegt. Warum sollte ich mir nicht auch ein Trauertagebuch anlegen, in dem ich meine Trauer und meine Klagen von A bis Z durchbuchstabiere? „A“ wie „Angst“ oder „Z“ wie „Zugeschnürte Kehle“? „B“ wie „Bis wann?“ oder „X“ wie „X-mal umsonst gewartet“? „C“ wie „Chaos in meinen Gedanken“ oder „K“ wie „Keine Energie mehr“. Ein persönliches Trauer- und Klage-ABC-Darium, das mir den Weg durch das Trauer- und Klagelabyrinth erleichtern wird. Ein Trauer- und Klage-ABC-Darium, das ich allein oder in einer Gruppe schreiben kann.
Mein persönliches Trauer- und Klage-ABC darf ich Gott hinhalten. Ich darf Worte finden für das, was mir auf der Seele liegt. Ich darf alle Not und Qual vor Gott aussprechen. Gott hört mir zu. Er hilft mir. Er ist einfach da und hält mir seine offenen Arme hin.
Und wer weiß, sobald sich die Hoffnung in mir gefestigt hat und meine Füße mich wieder tragen, werde ich vielleicht sogar ein Hoffnungs-ABC-Darium schreiben!