Stille hört man, wo noch Uhren ticken.
Stille hört man, wo Stimmen schweigen.
Stille hört man am besten nachts zwischen 3 und 4 Uhr.
Die sensibelste Zeit. Die einsamste Zeit. Die „suizidale“ Zeit.
Stille ist gefährlich und heilsam.
Stille ist ambivalent.
Ich suche die heimatliche, die heilende Kraft der Stille.
Ruhe ist etwas Anderes als Stille.
Ruhe ist Zurücklehnen und Entspannen.
Stille ist Aufmerken und Horchen.
Schweigen ist etwas Anderes als Stille.
Schweigen ist der Verzicht auf Äußerung, Kommentar und Kritik.
Stille ist höchste Aktivität und Anwesenheit.
Einsamkeit ist etwas Anderes als Stille.
Einsamkeit ist Verlassen- und Ausgeschlossen-Sein.
Stille ist „Mehrsamkeit“ und einverständiges Gegenüber.
Über die heilende Kraft der Stille habe ich vor vielen Jahren geschrieben:
„Er war weit gegangen, abseits der Straße auf Wegen,
die kaum mehr erkennbar waren.
Weit ist er gegangen, ziellos, mit der gelassenen Bereitschaft,
einem Glück zu begegnen.
Da war ein stilles Leuchten am Gegenhang.
Nicht fordernd und lodernd wie der Dornbusch in der Wüste.
Nicht drängend und eilend wie die Feuersäule bei Nacht.
Es war das stille Leuchten eines Herbstbaumes in der tiefen Sonne.
Er stand und spürte nicht, dass er stand.
Sammelte mit allen Sinnen kostbare Farben und Klänge.
Er hat den heiligen Boden nicht betreten.
Man erzählt, sein Gesicht habe geleuchtet, als er zurückkam.
Seinen Beruf als Maler habe er aufgegeben.
Man erzählt, er singe nun Lieder.
Er, der von Geburt an stumm gewesen, singe nun Lieder.“
(G.E., Stille heilt. Atemholen zwischen heute und morgen, Stuttgart 1999, S. 10 f)
Ich weiß es nicht besser.
Ich weiß nur, dass Stille heilt.
Einsamkeit macht wund.
Schweigen verstört.
Ruhe entspannt. (Mehr eben nicht.)
Nur heimatliche Stille heilt.
Ist wie eine bergende Umarmung, ein behutsames Einverständnis, ein
verspürter Hauch Segen. Ja: Ein verspürter Hauch Segen.
Solche Stille birgt.
Solche Stille schafft dem Neugeborenen einen nährenden Raum.
Solche Stille schenkt dem Sterbenden ein tröstendes „Wir“ und „Uns“ und „Versprochen“.
Solche Stille richtet den Lebenden auf, sich zu äußern,
die Gepeinigten, sich zu wehren.
die Harten macht sie milde
und die Zaghaften mutig.
Stille heilt.
Ich war „Zeuge“ beim nächtlichen Abstieg vom Horeb, in den vollkommen ungeeigneten „Schlappen“ unseres ägyptischen Reiseführers, der unten blieb. Meine dafür „präparierten“ Wanderschuhe hatten zuhause die Mäuse zerfressen. Dumm gelaufen.
Wir stiegen langsam in vollkommener Dunkelheit, und doch über uns die Pracht der Sterne, ohne künstliches Licht, nach unten zum Katharinenkloster. Neben mir ein jüngerer Kollege aus Berlin. Beide haben wir wenig geredet. Waren achtsam, einer auf den anderen; nahe beieinander, offen für den anderen, aber unaufdringlich. Ein wahrlich seltenes Erlebnis. Ein Gespür für die heilende, auf das Wesentliche konzentrierte Kraft der Stille.
Dem übereifrigen, mit seiner Lebensphilosophie ans Ende gekommenen, heldenhaft erfolgreichen und trotzdem lebensmüden Elia, geläutert durch eine lange Zeit in der Wüste, begegnet Gott am Horeb auf sonderbare Weise. Alle Gottesbilder, die ein Mensch sich denken kann, lässt er vor der Höhle passieren: Den gewaltigen Sturmgott, den Blitz- und Donner-Zeus, Wotan, Jupiter & Co.. Schließlich, am Ende der menschlichen Projektionen von der Wucht Gottes, erscheint Gott. Es erinnert an Elias Gotteserfahrung in 1. Könige 19,11.12. Ich zitiere Martin Buber, nicht zu „toppen“:
„Da
vorüberfahrend ER:
ein Sturmbraus, groß und heftig,
Berge spellend, Felsen mahnend,
her vor SEINEM Antlitz:
ER im Sturme nicht -
und nach dem Sturm ein Beben:
ER im Beben nicht -
und nach dem Beben ein Feuer:
ER im Feuer nicht -,
aber nach dem Feuer
eine Stimme verschwebenden Schweigens.“
(Martin Buber, Die Schrift 2, Bücher der Geschichte, Heidelberg 1985, S. 406)
Als ich am 3. Juni vom Tod des verehrten „Hoffnungs-Theologen“ Jürgen Moltmann hörte, für den ich in den letzten Jahren einiges schreiben durfte und mit dem ich „über Grenzen hinweg“ häufig brieflich in Kontakt war, habe ich spontan geschrieben:
Da gibt es einen Raum, in dem nichts „gehen muss“.
Gott ist ihn gegangen.
Da gibt es eine Weite, die nicht erforscht werden muss.
Gott hat sie geschaffen.
Da gibt es einen Trost, um den niemand betteln muss.
Gott hält seine Verheißung.
Da gibt es einen Advent, der hält, was er verspricht.
Gott kommt.
Da gibt es eine Stille, die nicht ermahnt werden muss.
Sie ist da.
Ich glaube, Reiner Kunze hat das großartig und einfühlsam verstanden, hatte ein Gespür dafür, als er seine „Einladung zu einer Tasse Jasmintee“ geschrieben hat:
„Treten Sie ein, legen Sie Ihre
Traurigkeit ab, hier
dürfen Sie schweigen.“
(Reiner Kunze, sensible Wege und frühe gedichte, Frankfurt 1996, S. 105)
Dann ist es gut. Nicht nur für uns „Alte“.
Gerhard Engelsberger