Was sagen wir angesichts der Endlichkeit des Lebens? Wovon „träumen“ die Alten, was „sehen“ die Jungen, was „prophezeien“ unsere Kinder? (Joel 3,1)
Ich stelle selbstkritisch fest: Abgesehen von Beerdigungen, Toten- und Ewigkeitssonntagen, Volkstrauertagen war ich geneigt, den Gemeinden nur die halbe Wahrheit zu sagen. Die „halbe Wahrheit“ bezog sich auf die Gestaltung des Lebens, auf den Umgang miteinander, auf Gemeindeaufbau, Frieden, Gerechtigkeit und hatte als wesentliche Richtschnur die Liebe. Die „Eschatologie“ blieb weitgehend außen vor. Wesentliche Teile des Credos blieben ausgespart. Das „von dort wird er kommen“ war der Adventszeit vorbehalten, an Hlg. Abend „war er da“ und blieb auch über Christi Himmelfahrt hinaus. Galten doch die Gedanken eher dem meist nicht einfachen Bewältigen der Gegenwart als der – wie auch immer – offenen Zukunft; erst recht nicht der Zukunft, die uns nach dem Tod „zukommt“.
Michael von Brück schreibt: „Die Bestattung wurde professionalisiert, der Tod romantisiert, der Tote objektiviert“. (Michael von Brück, Ewiges Leben und Wiedergeburt. Sterben, Tod und Jenseitshoffnung in europäischen und asiatischen Kulturen, Freiburg 2008, S. 169)
Mit Recht stellt Johanna Rahner fest: „Die traditionell eher angstbesetzten Motive sind zwar zugunsten einer zuversichtlichen Auferstehungshoffnung aufgegeben, doch scheint es noch nicht gelungen, entsprechende Identifikationsmomente wirklich zu integrieren und so die Liturgie auch lebensweltlich zu verorten. Ein deutlicher Hinweis ist hier die Unzufriedenheit jener, die eine Totenliturgie feiern wollen, die ,für den Verstorbenen passt‘. Dieser in der liturgischen Praxis spürbaren Tendenz zur Pluralisierung der Gottesdienst- und Ritualgestaltung entspricht in unserem Kulturkreis auch die zunehmende Individualisierung und Personalisierung der Beerdigungsriten selbst, von der anonymen Urnenbeisetzung bis zum Friedwald. Ein erster Hinweis auf solche veränderten Bedürfnisse auch innerhalb der christlichen Beerdigungsriten, die zunehmend auch mit neuen Inhalten gefüllt werden, ist eine wachsende Bedeutung der Befreiungs- und Heilungsmetaphorik, die auf einen heute zentralen Punkt der Totenliturgie aufmerksam macht:
Die Erfahrung der Gebrochenheit menschlicher Existenz angesichts der Grenzerfahrung des Todes. Damit stehen aber zugleich die Biographie des Verstorbenen und ihre Deutung im Horizont des christlichen Paschamysteriums im Mittelpunkt. Das freilich ist ein Zugang, der eher eine tastend-suchende Sprache als eine streng konfessorische nahelegt. Zugleich entspricht dies der zunehmenden Erfahrungsbezogenheit der Rituale. Da sie zugleich als Abschiedsrituale zu inszenieren sind, kann ihre Erfahrungsbezogenheit indes vom Eventcharakter bis zur betont personalisierten Emotionalität reichen. Das trägt nun wiederum zur Pluralisierung und Differenzierung der Begräbnisriten bei.“ (Einführung in die christliche Eschatologie, Freiburg 2016, S. 24 f)
Ich stelle fest: Ich bin den Gemeinden meist das schuldig geblieben, was die Theologie unter „Eschatologie“ abhandelt. Die „Lehre von den letzten Dingen“ – so sagte man früher. Heute ist man verlegen, verweist auf das Unsagbare, das Unsichtbare, das Verborgene. „Hoffnung“ steht für alles (und alltäglichen Trost). Ich lasse mich gerne von Ernst Bloch und Jürgen Moltmann – je auf ihre großartige Weise – korrigieren, ergänzen und belehren. Es bleibt das Manko, dass ich den Gemeinden Wesentliches schuldig geblieben bin. Nun bin ich keiner, der auf den letzten Drücker Verbocktes auszugleichen versucht. Ich möchte eher noch einmal neu beginnen mit einem Nachdenken über die „ganze Wahrheit“. War die eine Hälfte nach meinen Kräften und Grenzen passabel, suche ich in der Bibel, in meinen Erfahrungen und im Gespräch „nach dem, was sich über das ,danach‘ sagen und hoffen und glauben lässt.“
Spannend ist mir dabei schon immer gewesen, dass Paulus, der den zweifelnden und hoffenden Gemeinden Rede und Antwort stehen musste, ein deutliches Zeichen gesetzt hat. Die Übereifrigen, die den Tag des „Kommens des Herrn“ nicht abwarten wollten, mahnt er zur Geduld. Die anderen, die sich „eingerichtet“ hatten, gar arrangiert mit dem status quo, die mahnt er zur Wachsamkeit, rüttelt sie auf und stört ihr „settlement“. Er selbst jagt von Ort zu Ort, getrieben vom Evangelium zwischen Arbeit fürs tägliche Brot, Versorgt-Werden durch Mitchristen und Predigt, andererseits immer gespannt auf das Nächste, orientiert am Kommenden bei unsicherer Bleibe.
Jesus hat es ihm vorgelebt: „Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.“ (Lukas 9,58) So wie Jesus (Mose, Henoch und Elia) keine Ruhestätte finden, so treibt es das „Evangelium“ über jedes Grab hinaus.
Nichts bleibt: „Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich. Es wird gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Schwachheit und wird auferstehen in Kraft. Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib. Gibt es einen natürlichen Leib, so gibt es auch einen geistlichen Leib. Wie geschrieben steht: Der erste Mensch, Adam, ,wurde zu einem lebendigen Wesen‘, und der letzte Adam zum Geist, der lebendig macht. Aber nicht der geistliche Leib ist der erste, sondern der natürliche; danach der geistliche. Der erste Mensch ist von der Erde und irdisch; der zweite Mensch ist vom Himmel.“ (1. Kor 15,42 ff)
Aber haben wir uns nicht darauf verständigt, keine Spekulationen anzustellen? Ist die Gefahr nicht groß, die Menschen „hinters Licht“ zu führen? „Ins Licht“ wollen wir sie begleiten. Wie soll das gehen mit der „halben Wahrheit“?
Ich habe den Eindruck, wir sind den Menschen, aus Sorge, sie zu täuschen, zu enttäuschen, tatsächlich die halbe Wahrheit schuldig geblieben.
Ich sage es in diesem Editorial sehr einfach: Die eine Hälfte der Wahrheit unseres Glaubens ist der Jesus der Bergpredigt, der Heilungen, der Mahnungen, der Orientierungen. Die andere Hälfte der Wahrheit unseres Glaubens ist der Auferstandene, der Christus, unser Bruder an der Seite des Vaters, auf dessen Auferstehung wir uns als Christen einzig berufen in der Hoffnung über das „schauerlichste Übel“ (Epikur), den Tod hinaus. Doch was heißt „hinaus“?
Angesichts zerschlagener Hoffnungen war in und nach den Krisen der Weltkriege dem „apokalyptischen framing … kein Ende gesetzt.“ (Beat Dietschy, Bloch-Jahrbuch 2020/21, S. 21) Da ging und geht es um „Weltuntergang“, Apokalypse now“, Vernichtung etc.
Aktuell allerdings habe ich den Eindruck, junge Eltern wollen nicht wie früher, dass es ihren Kindern „mal besser geht“. Sie „hoffen“, dass alles so bleibt und die globalen Verteilkämpfe ihr Kinder nicht erreichen.
Kant stellte vier Fragen:
„Was kann ich wissen?
Was soll ich tun?
Was darf ich hoffen?
Was ist der Mensch?“
Was kann ich wissen? Die Medien liefern uns eine Überfülle.
Was kann ich tun? Die Werte-Diskussion ist in vollem Gang.
Was darf ich hoffen? Fehlanzeige. Dass alles so (gut) bleibt …
Was ist der Mensch? Offensichtlich hat nur die Naturwissenschaft darauf „spektakuläre“ Erkenntnisse.
In „Schabbat, Traktat 2,4“ (s. Barbara Honigmann, Unverschämt jüdisch, München 2021, S. 116) lese ich: „Zu den Fragen, die dem Menschen zukünftig am Tage des Gerichts gestellt werden, gehört: ,Hast du gehofft?‘„
Und?
Was und wen (denken wir transitiv!) hoffen wir?
„Credo in“ oder „Credo“?
Schaffen wir das/den Geglaubten?
Oder ist das/der Geglaubte die Grundlage unseres Hoffens?
Ich will nicht sagen: Warten wir es ab.
Ich will sagen: Seien wir (als Angehörige der Generationen Y und Z) Zeugen.
Mehr nicht. Aber das – bitte – authentisch!
Ich bekenne:
Als ich zweifelte, traf mich der Zweifel.
Als ich schwieg, traf mich das Schweigen.
Als ich liebte, traf mich die Liebe.
Als ich zweifelnd betete und schwieg, traf mich Gott.
Gerhard Engelsberger