Mache dich auf, werde licht; denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des HERRN geht auf über dir!
Jesaja 60,1
Der Stoff Rhodopsin schimmert unter dem Elektronenmikroskop rötlich. Er sieht aus wie eine einfache Spielfigur: Spiralig aufgerollte Eiweiße bilden einen Stil, an dem oben ein Köpfchen sitzt. Eines dieser Eiweiße besteht aus zwei Teilen, die nur lose verbunden sind. Auf das kommt es an, denn fällt ein Lichtstrahl darauf, nimmt dies Eiweiß in seiner Mitte die Energie auf. Verbindungen verschieben sich, es wird instabil und zerfällt. Das ganze Rhodopsin verändert dann seine Form. Im Mikroskop verliert es dann sogar seine rötliche Farbe.
Der Stoff Rhodopsin ist im Tierreich weit verbreitet. Er findet sich in den Sehzellen von Säugetieren und Vögeln, aber auch in den Facettenaugen der Insekten. Selbst Quallen und Regenwürmer haben ihn. Denn der Stoff Rhodopsin ist ein Geschenk des Lebens und das Tor zum Licht.
Ich stehe in tiefer Dunkelheit. Vor mir liegt nur unheimliche Schwärze. Nichts kann ich erkennen, nirgendwo ist ein Lichtstrahl am Horizont.
In den Sehzellen meiner Augen liegt das Rhodopsin in ordentlichen Stapeln bereit. In der tiefen Dunkelheit hat es seine Ruheform angenommen. Da aber fällt ein Lichtstrahl in mein Auge. Er erreicht die Netzhaut mit den Sehzellen. Das Rhodopsin in ihnen nimmt die Energie auf und zerfällt. Die Stapel geraten durcheinander. Und die Zelle erwacht. Plötzlich vergrößert sich ihre elektrische Spannung. Sie hat das Licht bemerkt und gibt die Botschaft weiter.
Ich stehe in tiefer Dunkelheit und weiß nichts davon. Vor mir nur unheimliche Schwärze. Sie macht mir Angst. Wer weiß, was da in der Dunkelheit lauert, wer weiß, welcher Abgrund vor meinen Füßen gähnt.
In meinem Auge bemerken jetzt die ersten Nervenzellen, wie sie erwachen. Noch im Auge geben sie die Botschaft weiter, verstärken und vernetzen sie. Denn auch die anderen Sehzellen haben das Licht bemerkt. Schließlich erreicht die Botschaft den Sehnerv und wandert durch ihn in mein Gehirn. Darin wird es jetzt lebendig: Synapsen feuern, elektrische Ströme flitzen zwischen den Hirnhälften hin und her. Es ist ganz unglaublich, was so ein bisschen zerfallenes Rhodopsin bewirken kann.
Ich stehe in tiefer Dunkelheit und weiß nichts davon. Wie erstarrt stehe ich da, umgeben vom Grauen der Finsternis. Keine Bewegung darf mich verraten, keinen Schritt darf ich wagen. Ich weiß nicht, was passiert; ich weiß nicht, ob es je wieder hell wird. Ich habe Angst.
Mein Gehirn ist jetzt hellwach. Die Botschaft aus den Augen hat meine hintere Großhirnrinde erreicht und da ist jetzt was los: 30 Bereiche müssen verschaltet werden, chemische und elektrische Botschaften sausen zwischen ihnen hin und her. Lichtstärke, Richtung, Entfernung werden berechnet, Reize aus beiden Augen vernetzt. Immer schärfer, immer deutlicher wird das Bild, das mir erscheinen soll: Das Bild von einem Licht, das in der Finsternis leuchtet.
Ich stehe in tiefer Dunkelheit und weiß nichts davon.
Doch jetzt ist es soweit: Die Botschaft erreicht den vorderen Teil meiner Großhirnrinde. Nervenzellen erwachen, verbinden sich, weben ein Netz aus Signalen. Und plötzlich sehe ich: Ein Licht erscheint, ganz hinten am Horizont, es leuchtet und funkelt. Die Dunkelheit weicht, Formen tauchen auf, noch grau und verschwommen, dann deutlicher: Hügel, Bäume und Häuser, die Welt wird hell. Da ist nichts, was mich bedroht. Kein unheimliches Wesen schleicht sich an, kein Abgrund gähnt vor meinen Füßen. Das Grauen in mir weicht, ich spüre Erleichterung, dann Freude.
Und dabei ist doch nur ein bisschen Rhodopsin in meinen Augen zerfallen. Es ist wirklich erstaunlich, welche Folgen so eine kleine chemische Reaktion haben kann! Dieser Stoff ist ein Geschenk des Lebens und das Tor zum Licht.
Die Welt wird hell. Das neue Licht umhüllt mich. Ein Weg liegt zu meinen Füßen. Er führt hinunter in die Welt, dem Licht entgegen. Voll Freude gehe ich den ersten Schritt.