1. Advent,
1. Dezember 2024
Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer.
Sacharja 9,9
Veni redemptor gentium – unser Evangelisches Kirchengesangbuch begann einst mit dem Gebetsruf: Komm, Heiland der Völker, Erlöser der Heiden.
So endet die Bibel, den Gläubigen Trostruf, den Verfolgern Drohung: Ja, Herr, komm! Maranatha! So beginnen seit Jahrhunderten alle reformierten Kirchengesangbücher. Komm nun, ich bin bereit.
Aus deinem Woher und Wohin blühen an unseren Fenstern Provokationen, Eisblumen zwischen Wärme und Kälte. Was ist ihnen alles eingefallen, um dich in ihre Bilderrahmen zu pressen: Guerillakämpfer, Scheinmensch, Scharlatan, Menschensohn und Gottessohn, Prophet, Heilpraktiker, König, Mensch, Gott, Gottmensch … gezeugt oder nicht gezeugt, geschaffen oder nicht geschaffen, auferstanden in die Verkündigung der Kirche oder leiblich auferstanden, aufgefahren in den Himmel, erniedrigt, erhöht …
Was immer sie ersannen, dich zu begreifen, es blieb Stückwerk, Provokation. Um der Frage willen, welches nun deine Natur war oder sei, wurden Menschen erschlagen, Kriege geführt, Ketzer verbrannt und Familien zerrissen. So hast du das nicht gemeint. Nun komm, gib dich zu erkennen. Gib dich ein weiteres Mal in unsere Hände, damit wir begreifen. Hilflose Gesten aus Zärtlichkeit und Trauer gießen Öl auf deine Wunden, bleiben selbst unverstanden.
Keiner hat verstanden, die Jünger nicht, der Verräter nicht, Pilatus nicht und Herodes, nicht einmal Maria und Joseph. Wer kann auch verstehen, dass ein Gott die Stelle wechselt. Licht und Finsternis, Tag und Nacht, oben und unten tauschen den Platz.
Die einen ließen nicht zu, dass ein Mensch Gott gleich sei. Zuviel der Ehre. Sie fürchteten um ihren Gott, wenn der Graben überschritten wird, die Mauer fällt. Andere ließen sie nicht zu, dass du einer von uns wirst. Sie fürchteten Schwielen an deinen Händen und dunkle Flecken auf reiner Weste.
Spürten nicht die Befreiung, spürten nur dumpf die Angst des ganz anderen. Götter haben – wenn schon zu Besuch auf Erden – diese doch unbehelligt wieder zu verlassen, der Ordnung halber.
Ob wir das je verstehen?
Bei welchen Sätzen des Glaubensbekenntisses atmen wir auf? Welche Dogmen bringen uns zum Jubeln? Was ändert sich für uns, wenn wir Gottes Kommen besingen in diesen alten, dichten Strophen?
Du kommst nicht zu Besuch. Du kommst und suchst Bleibe.
Du nimmst unsre Wunden in Pflege und entlässt uns zu aufrechtem Gang in den Tag.
2. Advent
8. Dezember 2024
Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.
Lukas 21,28
Was sein soll, ist nicht. Was ist, darf nicht sein. Damit kommen Menschen nicht zurecht, einer verwundet den anderen, nicht wenige verstümmeln sich selbst, lachen noch angesichts schwerster Wunden. Auf engstem Raum verkriecht sich eine Seele. Menschen lassen an ihr Innerstes niemanden mehr heran. Die wunde Seele ist Allgemeinzustand.
Helmut Gollwitzer hat in den 1960er Jahren ein Buch geschrieben mit dem Titel „Krummes Holz – aufrechter Gang“. Viele aus meiner Generation haben daraus gelernt. Uns wird es eine Lehre sein, das Politische und das Kirchliche nicht mehr zu trennen. Uns wird es eine Lehre sein, Körper und Seele, Arbeit und Gebet, Oben und Unten nicht mehr auseinanderdividieren zu lassen.
Christen sind heute gefragt, ob sie etwas zu sagen haben gegen die Resignation der Zeit, gegen den schleichenden Ausverkauf von Hoffnung, den Schlussverkauf von Träumen, gegen die Händlermentalität, die längst auch die Käufer ergriffen hat.
Eine müde alte Welt verharrt orientierungs- und sprachlos. Diese müde alte Welt hätte etwas zu sagen, wenn sie sich auf die eigenen Quellen besinnen, auf die eigenen Wurzeln stützen würde. Unsicher geworden, reagiert sie wie ein Blatt im Wind. Versucht, zu überleben. Eine tiefe Depression hat am Anfang des dritten Jahrtausend das Abendland ergriffen.
Es ist einige Jahre her, da fand man – was weiß ich wo – in Israel einen Scherbenhaufen. Lauter einzelne kleine Nachrichten, Briefe, Kommentare des Zeitgeschehens. 6. Jahrhundert sagen die Kundigen. Als Jerusalem belagert war von babylonischen Truppen. Vor 2500 Jahren. Ein Kommentar, eine Nachricht, eine Tonscherbe hat es mir besonders angetan. Auf ihr steht: „Leute gibt es, die die Hände des Landes und der Stadt schlaff machen.“
Leute gibt es, die die Hände des Landes und der Stadt schlaff machen. Wer sind diese Leute?
Die Ehrlichen oder die widersprüchlich Aktiven oder die distanzieren Beobachter?
Mit den Jahren bin ich ein Zweifler geworden, was die menschlichen Fähigkeiten anbelangt. Menschen hassen. Menschen töten und Menschen machen zunichte. Ebenso staune ich mit den Jahren über das, was Menschen vermögen, wenn sie lieben. Menschen erfinden. Menschen träumen. Menschen gestalten.
Wer mit den Augen Gottes sieht, sieht in das Herz der Dinge, legt die Trauerkleider ab, geht an die Arbeit oder tanzt, kämpft oder singt, spielt oder schweigt – sucht, was dem Leben dient. Ich möchte der Resignation widersprechen und sagen:
Da ist Leben im Schweigen.
Da ist Ruhe im Protest
Da ist Weite im Streit und Klarheit auf dem Umweg.
Da ist eine Verheißung.
Und der will ich mich öffnen.
3. Advent
15. Dezember 2024
Bereitet dem HERRN den Weg; denn siehe, der HERR kommt gewaltig.
Jesaja 40,3.10
Die Adventslieder unserer Kirche beschreiben die Bilder des Kommens Gottes, sie verkündigen einen kommenden Gott. Sie greifen Bilder der Bibel auf und malen sie weiter in der Sprache ihrer Zeit und Vorstellungswelt. Und doch sind es immer wieder die gleichen Motive: Bilder des Lichts in der Finsternis, des Tores, einer aufblühenden Blume, eines gerechten Königs, eines aufgerissenen Himmels und eines offenen Weges. Es sind dies Bilder, die tief im Innern des Menschen auf Verständnis stoßen, Bilder, die der Mensch mit der Seele hört und versteht. Deshalb veralten diese alten Lieder nicht. Fast alle Adventslieder unseres Gesangbuches sind übrigens in dunklen Zeiten geschrieben.
Gott kommt. Er ist „auf dem Weg“.
Macht hoch die Tür, die Tor mach weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit. (1,1). Nun komm, der Heiden Heiland (4,1). Gottes Sohn ist kommen (5,1). Ihr lieben Christen, freut euch nun, bald wird erscheinen Gottes Sohn (6,1). O Heiland, reiß die Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf (7,1). Es kommt, ein Schiff, geladen bis an sein‘ höchsten Bord (8,1).
Gelegentlich kommt der Kommende in „niedern Hüllen“ (14,1) und „ohne große Pracht“ (9,1), auch geht das Schiff „still im Triebe“ (8,2) und der „Gewaltige“, „Herrliche“, Mächtige“ und Königliche“ reitet schlicht „auf einem Eselei“ (9,2).
Viele der Adventslieder greifen die Bilder des Wochenspruches aus Jeremia 40 auf. Als Beispiel mag gelten:
Ebnet, ebnet Gott, die Bahn, bei Tal und Hügel fanget an. (15,3)
Es kommt der Herr, eur Gott ist da und herrscht gewaltig fern und nah. (15,6)
Das Kommen Gottes hat zwei Ziele:
Einmal die Trostlosen und Elenden zu trösten und zum anderen die scheinbare Macht des Todes und des Teufels endgültig zu zerstören. Dass dies mit „Gewalt“ einhergeht, verstehen alle, die in Hunger und Ohnmacht ihr Dasein fristen müssen, in Bunkern zur Schule gehen, keine medizinische Versorgung haben, im Finstern leben und im Dunkeln wohnen.
4. Advent
22. Dezember 2024
Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch! Der Herr ist nahe!
Philipper 4,4–5
Ostern ist der Grund unserer Freude. Der, der kommt, war schon da. Wir kennen seine Regeln, wir spürten seine heilende Kraft. Er taute das Eis auf zwischen Feind und Feind. Er warb für die Phantasien der Kleinen, machte zum Maßstab den Umgang mit Kindern, Kranken und Ausgegrenzten, hatte – wo es nötig war und Leben schuf – ein hartes Wort, hatte für den Verzweifelten und Mutlosen ein sanftes Wort.
Anfangs war seine Auferstehung Theorie, ein Gerede. Die Männer trauten den Frauen nicht. Dann kommt der Geist Gottes über sie, der Geist der Freude. Er sprengt die Mauer ihrer Trauer, sprengt Risse in ihre Sprachlosigkeit.
Freude schlägt Brücken von mir zu dir. Was mich freut, kann ich nicht für mich behalten. „Du, hör mal zu!“ Freude will heraus, Freude über das Gelungene, das Mögliche, das Befreiende.
Doch: Noch ist Advent. Noch ist nicht Weihnachten.
Es gibt wohl kein tieferes menschliches Bedürfnis, keine tiefere menschliche Sehnsucht als die nach Geborgenheit, nach Frieden, nach freiem Leben, nach Heilung – umfassend nennt es die Bibel Schalom.
Trost und Freude. Es sind die wundesten Stellen eines Volkes, eines Menschen, mit denen ich am sensibelsten umgehen muss. Verwundete in ihren Schmerzen sind trotz aller schlechten Erfahrung verführbar.
Geschickte Hände, freundliche Worte: Seid vorsichtig. Nicht jeder, der euch einlädt, hat auch einen Raum für euch. Nicht jeder, der freundlich mit euch redet, meint es auch gut.
Die Adventsfreude ist eine ernste Freude. Ist eine ehrliche Freude. Sie sucht nicht nach vordergründiger Befriedigung. Die Adventsfreude geht erst weite Wege ins Exil, ins Elend. Und macht sich dann mit Befreiten auf und erzählt von einem Gott, der die Soldatenstiefel zum Schweigen bringt, bei dessen Ankunft Herzen aus Stein zu schlagen beginnen. „Er kommt, er kommt, der Friedefürst“.
Das Wort Lachen kommt nur 20-mal in der ganzen Bibel vor, über 600-mal der Begriff „Freude“. Das hat seinen Grund. Auf der Suche nach diesem Grund kommen wir am Elend nicht vorbei. Weil Gott, weil der Friedefürst Jesus Christus, keinen Frieden schließt auf Kosten anderer.
Er kommt. Nicht: Du gehst oder machst oder schweigst oder gibst. Nicht „du gehst“ – „Er kommt“.
Christfest und 1. Sonntag nach dem Christfest
25. Dezember 2024
Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit.
Johannes 1,14a
In diesem Kommen und Gehen der Jahrtausende und Jahrmilliarden möchte ich wissen, ob mein Weg einen Sinn hat, und welchen. Es gibt unter uns auch welche, die fragen nicht mehr. Die schlagen zu. Die nehmen weg. Die machen kaputt. Die weinen ihre Tränen als Schläge ins offene Gesicht anderer.
Nicht im Kreis der Fragenden muss unsere Weihnachtsbotschaft bestehen. Sie muss im Kreis derer bestehen, die keine Fragen mehr stellen. Und dieser Kreis wird größer.
Wer kommt zur Anbetung des Kindes, der muss auch ertragen, dass über diesem Kind der Himmel offen ist. Wer sich zu den Gestalten im Stall reihen möchte, muss ertragen, dass er im Dreck des Stalles heiligen Boden betritt. Wer getroffen ist vom Blick oder Wort des Kindes, des Gekreuzigten und Auferstandenen, muss ertragen, dass es keine Nische mehr gibt, in die er sich flüchten könnte vor Gott.
Es gibt keinen Ort, der nicht Gottes Ort ist. Und es gibt keinen Himmel, der uns nicht offensteht. Es gibt keinen unbeteiligten Gott, den ich mit Opfern besänftigen müsste. Es gibt keinen unbeteiligten Gott, der die Raserei von Gewalttätern aus sicherer Distanz beobachtet.
Christus ertrank namenlos im Mittelmeer. Christus wurden die Beine weggerissen durch die Autobombe in Mogadischu. Christus hat seine Olivenhaine, sein Haus und ein Kind verloren bei den Sommer-Bränden im Süden Europas.
Es gibt keinen unbeteiligten Gott. Das Wort ist Fleisch geworden. Echt. Angrifflich und greifbar.
Dieses Kind in der Krippe, dieser Gekreuzigte und Auferstandene ist das Testament Gottes.
Gott und Mensch: eins. Vergangenheit und Zukunft: geborgen in dieser Einheit.
Die Toten und die Lebenden: in ihm eins.
Garant dieser Einheit: Jesus Christus.
Groß ist das Geheimnis des Glaubens.
Es bleibt alles ein Geheimnis. Gut so. Mir sind die nicht geheuer, die alle Geheimnisse lüften möchten. Meine tiefe Sorge gilt all denen, die vor sich selbst fliehen. Sie fliehen ja vor Gott. Sie sind in großer Gefahr.
Wo soll Gott suchen, wenn sie außer sich sind? Gott wird Mensch. Bein und Fleisch. Muskel und Nerven. Gott ist Mensch. Ganz unkompliziert sagen die Alten: Gott wird Mensch, der Mensch wird Gott. So unkompliziert.
Der Mensch, der vor sich selbst davonläuft, verliert nicht nur sein Gesicht, er verliert auch die Mitte. Er verliert seinen Christus.
Nein, es ist kein Krippenspiel. Es ist tiefster Ernst und Grund aller Lebensfreude. Wir sind Ort seiner Herrlichkeit. Du, ich, die in die Kameras winkenden Flüchtlinge im Mittelmeer, die Muslime, die Christen, die gehetzte Verkäuferin, die trotz aller Überflutung noch strahlenden Kinder, die guten Blicke zwischen dir und mir, die Lieder, die Bäume, die Finken morgen früh am Vogelhäuschen, dein mit zwei linken Händen verpacktes Geschenk, dein zu spät ankommender Brief, die vielen Glocken und spät in der Nacht die tiefe Stille: Groß ist das Geheimnis des Glaubens. Seine Herrlichkeit glänzt in deinen Augen und spiegelt sich in deinem Gesicht.