Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich.
1. Korinther 6,12
Alles ist mir erlaubt
Dieser Satz scheint in unserer Gesellschaft gerade Hochkonjunktur zu haben. Es ist ein hohes Gut in unserer westlichen Gesellschaft, dass die Individualität so hoch gehängt wird. Jeder Mensch hat das Recht auf Selbstverwirklichung. Jeder Mensch hat das Recht so zu leben, so zu sein, so zu glauben wie es ihm entspricht. Das hat etwas mit der Würde jedes Einzelnen zu tun, so wie es im Grundgesetz lange schon verankert ist.
Alles ist mir erlaubt, aber
Ein positiver Satz, der Freiheit verspricht, der jedoch schnell nach hinten losgehen kann, wären da nicht die beiden Nebensätze. Sie erinnern uns daran, dass es nicht gutgehen kann, wenn der einzelne Mensch nach seinem eigenen Gutdünken handelt, ohne sich in ein höheres Ganzes eingebunden zu fühlen. Wenn die Frage nach dem „Guten“ nicht gestellt wird. Wenn das, was der einzelne Mensch tut, nicht auch den und die anderen im Blick hat.
Die Ausgewogenheit zwischen persönlicher Freiheit und der Freiheit des Gegenübers wird uns nicht in die Wiege gelegt. Sie muss gelernt sein, von klein auf. Und immer wieder, in jeder neuen Situation, neu erprobt werden, denn jede neue Situation erfordert ein neues Ausloten. Wie schafft man es also, das richtige Gleichgewicht zu finden? Woher weiß man, dass die eigene Entscheidung dem Guten dient?
Alles ist mir erlaubt
Die Reformpädagogin Maria Montessori tat zu ihrer Zeit alles, um Kindern die Möglichkeit zu geben, eigene und freie Entscheidungen treffen zu dürfen. „Alles ist erlaubt“, das darf man gerne als ihr Motto bezeichnen: Du entscheidest selbst, was du wann tun willst, mach ruhig Fehler, probiere dich aus. Bis heute stehen Kindern in Montessori-Einrichtungen Räume zur Verfügung, in denen sie aus verschiedensten Materialien eigenständig auswählen können – entsprechend ihrem Entwicklungsstand und ihren Wünschen. Alles ist ihnen erlaubt. Ein grenzenloses Paradies also? Nein, denn ein Raum hat Grenzen. Und es sind genau diese Grenzen, die erst die Möglichkeit schaffen, freie Entscheidungen treffen zu können. Sich innerhalb eines Rahmens bewegen, der all das, was das gemeinsame Miteinander angeht, klar regelt: Tu was du willst, aber störe die anderen dabei nicht. Nimm dir alles was du brauchst, aber räume es hinterher wieder zurück. Mach das, was du willst, aber lass auch die anderen ihre Sachen in ihrem Rhythmus tun.
Keine Freiheit also ohne Grenzen und Absprachen. Keine Freiheit ohne den Respekt vor der Freiheit des anderen. „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt“ sagte der Philosoph Immanuel Kant. Und der Dichter Matthias Claudius, dessen aufgegangenen Mond viele Menschen des Abends besingen, formuliert es so: „Die Freiheit besteht darin, dass man alles das tun kann, was einem anderen nicht schadet.“ Das ist keine einfache Aufgabe, denn immer wieder gerät man ganz automatisch an die Grenzen der anderen. Also besser Entscheidungen aus dem Weg gehen aus lauter Angst, es verkehrt zu machen?
Dass das keine Lösung ist, hat Jesus vortrefflich vorgelebt. So vieles hat er getan, was Menschen zunächst vor den Kopf gestoßen und ihre Grenzen überschritten hat. Durch die Gegend ist er gezogen mit seiner Jüngerschaft, anstatt die Schreinerei seines Vaters zu übernehmen. Andere hat er angestiftet, ihre Familien zu verlassen, um mit ihm zu gehen. Am Sabbat hat er gearbeitet, die alten Schriften hat er neu interpretiert. Viele Freiheiten hat er sich genommen. Aber sie haben zum Guten gedient. Sie haben ihn nicht in einen Rausch geführt, der über ihn Macht hatte, sondern er hat sich in den Dienst Gottes gestellt. Er lädt uns ein, dass auch wir uns in diesen Dienst stellen. Mit allem, was wir sind und haben, mit unserem Tun und Können, unseren Begabungen und unserer Freude an der eigenen Verwirklichung. Und auch mit unserem gelegentlichen Scheitern. Immer verbunden mit der Frage nach dem „Guten“: Wem dient das, was ich mir herausnehme?
So beschließt Matthias Claudius sein bekanntes Abendlied mit dem Satz:
Verschon’ uns, Gott mit Strafen, und lass uns ruhig schlafen,
und unsern kranken Nachbarn auch.
So soll es sein, Amen.