Erstaunlicherweise entdecke bei Karl Barth (!) in seinen leider raren Bemerkungen über Mozart eine Liebe für das Spielerische. Und weil es mir danach ist, nach all den Jahren Predigten in Quarantäne, Kriegen, Abgewogenheiten und Einmischungen, all der Schwere und all dem Ernst, allem Gewichtigen und so „Wesentlichen“ endlich wieder einmal (ohne aktuellen Grund, nur weil ich erstmals Karl Barths „Wolfgang Amadeus Mozart“, Zürich 1956, gelesen habe) danach ist, will ich zu einer „Leichtigkeit“ auf der Kanzel einladen, die mir verloren scheint.
Hier ist keine Prüfung und keine Note.
Hier ist nicht Examen oder Abgehört-Werden.
Hier ist nur ein Wunsch, ich ginge nicht gedankenschwer – erst recht nicht schuldbeladen – , sondern befreit oder (den Ernsten bedenklich) gar „erleichtert“ aus dem Gottesdienst.
Hier ist nicht Muss, sondern Darf.
Hier ist nicht Sich-Beugen sondern Sich-wohlig-Strecken.
Hier ist nicht Verstehen, sondern Staunen.
Hier ist nicht Enge, sondern Weite.
Hier ist nicht Haben, sondern Sein.
Hier ist nicht Gebot, sondern Gott.
Wo kommt die Mozartsche Freiheit her, und kann sie uns, die die „Freiheit eines Christenmenschen“ rauf und runter buchstabiert haben, etwas – vielleicht etwas uns Fremdes – hilfreich beibringen? Ich lese bei Karl Barth zehn Jahre nach Naziherrschaft und Krieg:
„Es war nun einmal so – man mag es ihm übelnehmen oder verzeihen – , dass er (nach Ausweis seiner Briefe) wie von der ihn umgebenden Natur, so auch von der ganzen Geschichte, Literatur, Philosophie und Politik seiner Zeit nie direkt, nie konkret berührt war, ihr gegenüber auch keine besonderen Entscheidungen und Lehren zu vertreten und zu verkündigen hatte. Ich fürchte: er hat nie viel gelesen, und spekuliert und doziert hat er sicher nicht. …
Gott, die Welt, die Menschen, sich selbst, den Himmel und die Erde, das Leben und vor allem den Tod vor Augen, in den Ohren und im Herzen, war er ein im tiefsten unproblematischer und so ein freier Mensch: in einer ihm, wie es scheint, erlaubten und offenbar gebotenen und so exemplarischen Weise.
Das bringt es nun aber mit sich, dass seine Musik in einer ganz ungemeinen Weise frei ist von allen Übersteigerungen, von allen prinzipiellen Brüchen und Entgegensetzungen. Die Sonne scheint, aber sie blendet, verzehrt, verbrennt nicht. Der Himmel wölbt sich über der Erde, aber er lastet nicht auf ihr, er erdrückt und verschlingt sie nicht. Und so ist und bleibt die Erde die Erde, aber ohne sich in einem titanischen Aufruhr gegen den Himmel behaupten zu müssen. So machen sich auch die Finsternis, das Chaos, der Tod und die Hölle bemerkbar, sie dürfen aber keinen Augenblick überhandnehmen. Mozart musiziert, wissend um alles, aus einer geheimnisvollen Mitte heraus, und so kennt und wahrt er die Grenzen nach rechts und nach links, nach oben und nach unten. Er hält Maß. … Da ist kein Licht, das nicht auch das Dunkel kennte, keine Freude, die nicht auch das Leid in sich schlösse, aber auch umgekehrt: kein Erschrecken, kein Zorn, keine Klage, der nicht der Friede in irgendeiner Nähe oder Ferne zur Seite träte. Kein Lachen ohne Weinen also, aber auch kein Weinen ohne Lachen … Es ist gerade die Abwesenheit aller Dämonen, gerade das Anhalten vor den Extremen, gerade die weise Konfrontierung und Mischung der Elemente, was – noch einmal: die Freiheit ausmacht, in der in Mozarts Musik die echte vox humana in der ganzen Skala ihrer Möglichkeiten ungedämpft, aber auch unverbogen und krampflos zur Sprache kommt. …
Mozart hat nie gejammert, nie gehadert. Er hätte es wohl auch tun können. Er vollzog aber an Stelle dessen immer diese tröstliche, diese für jeden, der sie vernimmt, köstliche Wendung. Das scheint mir, sofern man das annähernd sagen darf, das Geheimnis seiner Freiheit und damit der Inbegriff seines Besonderen zu sein, nach dem wir uns eingangs gefragt haben. … Endlich: Mozart und die großen Maler. Mit der bildenden Kunst Raffaels ist die Musik Mozarts nach Goethe auch von anderen in Parallele gestellt worden. Ich erlaube mir die Vermutung, es könnte, wenn da verglichen werden soll, noch passender sein, an die reich, aber immer ruhig geschwungene und zugleich so herrlich klare Linienführung, an die unmissverständlichen Beziehungen und Begrenzungen und vor allem an das unergründliche Wissen, Fragen und Antworten der menschlichen Augen in den Malereien des Sandro Botticelli zu denken: So wie diese Augen zu sehen scheinen, so möchte Wolfgang Amadeus Mozart in seiner großen Freiheit gehört haben, um dann in derselben großen Freiheit spielen zu dürfen, wie es ihm gegeben war.“ (Karl Barth, Wolfgang Amadeus Mozart, Zürich 1956, S. 38 ff in Auswahl)
Sage keiner von uns, wir hätten nie gehadert und gejammert. Hätten nie übertrieben oder übersteigert. Hätten uns nie im Tiefsten beeinflussen lassen von dem, was uns von „draußen“ umtreibt. Man kennt mich weiß Gott nicht so, dass ich mich „außen vor“ halte. Ich war im Gegenteil, auch predigend immer „mitten drin“.
Nun mein Barthsches/Mozartsches „Doch“:
In wessen „Mitte“ war ich?
War ich „in mir“?
War ich „in der Welt“?
War ich „in der Schrift“?
War ich in „Gott“?
War ich „in Gedanken“?
War ich „im Flug (vielleicht im „Fluch“) der Zeiten“?
So richtig ruhig war ich nie. War immer aufgeregt. War immer „dran“.
Gespielt habe ich ungern und selten. Selbst mit den Kindern war ich Gestalter, Antreiber, Förderer, Macher als Komponist, als Texter, als Dirigent.
Nun hoffe ich, dass einige der Kolleginnen und Kollegen mich verstehen, vielleicht mit mir fühlen und eingestehen, dass auch ihnen Bach näher ist als Mozart und „Spielen“ fremder als „Ernst“.
Ich weiß nicht, ob mein Zwischenruf den Niedergang der permanent nicht „reformierten“, sondern „neu organisierten“ Kirche aufhält.
Ich weiß nicht, ob in den „freien“ und „charismatischen“ Gemeinden die Zukunft unserer Kirche liegt.
Jede und jeder von uns weiß, dass es Jesus den Menschen leichter machen wollte. (Matth 11,28 ff)
Warum machen wir es den Menschen so schwer?
Lassen Sie Texte auswendig lernen?
Legen Wert darauf, dass sie uns (uns!) zuhören?
Warum – das ist durchaus „ernst gemeint“ – „knien wir uns nicht mit ihnen hin zum Spielen“?
Und: Wer traut sich, eine „Homiletik des Spielens“ zu schreiben?
Spielerisch glauben lernen. Als ob wir nicht wüssten, dass Kinder spielerisch Vertrauen lernen …
Gerhard Engelsberger