„Denn der Gott, der gesagt hat: Aus der Finsternis soll Licht aufstrahlen, er ist es, der es hat aufstrahlen lassen in unseren Herzen, so dass die Erkenntnis aufleuchtet, die Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes auf dem Angesicht Jesu Christi.“ (2. Korinther 4,6)
Zwingli-Porträt: Nach dem Leben gemalt
Der Spruch ist eingestandenermaßen doof: „Lieber vom Leben gezeichnet als von Picasso gemalt“. Wenn man sich aber die Porträtgalerie des Zürcher Regierungsrates oder der Basler Kirchenratspräsidenten anschaut, muss man sagen: Hat doch was. Denn natürlich sind keine „kubistischen“ Gemälde dabei, aber bei einigen denkt man: haarscharf daneben, in Sardinenöl gepinselt.
Gilt das nicht auch für die beiden einzigen Zwingli-Porträts, welche Hans Asper 1531 und 1549 gemalt hat? Auf ihnen ist ein steifer, freudloser Geselle im Profil zu sehen, mit verkniffener Mundpartie und mürrischem Blick ins Weite. Wer die starken, humorvollen Texte des Reformators kennt, muss auch hier sagen: vermutlich haarscharf daneben. Zu Aspers Verteidigung ließe sich anführen, dass es posthume Porträts sind. Der Maler konnte als Vorlage nur auf ein kleines Medaillon zurückgreifen.
Keine Frage: Aspers Bilder prägten einen unerfreulichen Blick auf Zwingli. Von Luther gibt es etwa 500 zu Lebzeiten angefertigte Porträts, darunter die berühmten von Cranach, Holbein und Dürer, die ihn in der ganzen Spannweite seiner Persönlichkeit zeigen. Hier wurde ein vielschichtiges Lutherbild geformt: der ernste Mönch, der akademische Theologe, der mutige „Junker Jörg“ mit Vollbart, der kraftvolle Prediger und sinnesfrohe Ehemann. Im Vergleich dazu haben jene beiden dürren Asper-Porträts über Jahrhunderte hinweg ein negatives Zwinglibild befördert, von dem wir schwer loskommen.
Wenn – ja, wenn es sich bei einem Bildnis Albrecht Dürers aus dem Jahr 1516 nicht doch um Zwingli handeln sollte (National Gallery in Washington). Was schön wäre, aber ziemlich unwahrscheinlich ist. Denn wie hätte Zwingli, damals armselig bezahlter Leutpriester von Einsiedeln, das Honorar für den hochdotierten Nürnberger Maler aufbringen können?
Dürers Gemälde zeigt einen jungen, energisch und zuversichtlich dreinblickenden Geistlichen, es ist ein Meisterwerk psychologischer Porträtkunst.
Als Pascal Möhlmann, der in Zürich wohnhafte Porträtist von der Zeitschrift „NZZ Geschichte“ den Auftrag für ein neues Zwingliporträt bekam, konnte er demnach auf keine gesicherten Vorlagen zurückgreifen. Weil er aber seinen Job ernstnimmt und immer eine lebendige Person vor Augen haben will, streifte er durch Zürich auf der Suche nach plausiblen Zwingli-Köpfen, dabei stets die beiden verunglückten Asper-Bilder und auch den Dürer im Hinterkopf behaltend. Und stieß auf das markante Gesicht eines Bekannten, der in der Zürcher Altstadt eine erfolgreiche Boutique betreibt für high-quality-Jeans, edle Cowboy-Stiefel und auch im Toggenburg taugliche Mäntel. Dieser willigte ein und ließ sich fotografieren. Möhlmann ist ein exzellenter Porträtmaler, der sich im Selbststudium die Technik und Blickweise der holländischen Meister angeeignet hat (vgl. Das Magazin vom 3. April). Und deshalb haben wir jetzt ein „echtes“ Zwingli-Bild. Es wird den Blick auf den Zürcher Reformator für die nächsten 500 Jahre justieren.
Predigt:
Ist es Ihnen auch aufgefallen, wie oft in der Bibel vom Angesicht Gottes die Rede ist? Etwa in Psalm 27.8: „An dein Wort denkt mein Herz: Sucht mein Angesicht. Dein Angesicht, HERR, will ich suchen“. Wie oft lesen wir diese starke, paradoxe, biblische Metapher vom Angesicht des unsichtbaren, unerkennbaren Gottes! Sie besagt zweierlei: Gott ist kein gesichtsloses „energetisches Feld“, kein sächlich „Göttliches“, kein „Grund des Seins“, sondern ein Gegenüber. Er spricht uns an, er ist selbst ansprechbar. Zugleich aber sagt die Bibel: Gott ist unsichtbar. Und doch eben keine Projektion, kein von uns geschaffenes Idol. Das Antlitz des Unsichtbaren – was für ein starkes Wortbild!
Gottes Angesicht – darin spricht sich unsere tiefste Sehnsucht aus nach Zuwendung, nicht irgendeiner Zuwendung, sondern: Gottes Zuwendung; nach einem Angesprochenwerden, einem guten Wort. Am einprägsamsten ist im aaronitischen Segen diese Bildlichkeit entfaltet und durch regelmäßige Liturgie in unseren Kernwortschatz eingegangen: „Gott der Herr segne euch! Er lasse sein Angesicht über euch leuchten und sei euch gnädig.“ Wieder dieses zuwandte Angesicht, das seinen emotionalen Kern in der Zuwendung der Eltern hat, die ihrem Kind ein lächelndes Gesicht zuwenden und damit sagen: Du bist willkommen. Und doch eben: Es ist das Wort vom Angesicht, nicht das Angesicht selbst – „An dein Wort denkt mein Herz: Sucht mein Angesicht!“
Wir erinnern uns vielleicht nun an die vielen Bibelstellen, die vom Angesicht Gottes sprechen. Von der gesuchten, ersehnten, auch gefürchteten, von der dankbar erlebten Zuwendung. Diese starke Metapher lebt von Erfahrungen. Elazar Benyoëtz, der jüdische Theologe und Aphoristiker, hat zuspitzend formuliert: „Ich auf Griechisch heißt: ‚anstelle der Götter’, auf Hebräisch heißt es immer noch ‚im Angesicht Gottes’“ (Benyoëtz, Die Eselin, S. 17).
Es ist ein radikaler Glaube, dass Gott seine Zuwendung, sein Gesicht im Gesicht eines Menschen zeigt: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ – lässt Johannes seinen Christus sagen (Joh. 14.9).
Und Paulus findet (wie fast immer) die pointierteste Formulierung dafür: „Denn der Gott, der gesagt hat: Aus der Finsternis soll Licht aufstrahlen, er ist es, der es hat aufstrahlen lassen in unseren Herzen, so dass die Erkenntnis aufleuchtet, die Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes auf dem Angesicht Jesu Christi“ (2.Kor. 4,6). Was für eine knappe, großartige Verdichtung und Zusammenfassung: „Die Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes (Gloria) auf dem Angesicht Jesu Christi“. Für Paulus ist das eine große Geschichte: eine Lebens-, eine Passions-, eine Liebesgeschichte …
Für dieses Gesicht Christi, von dem es keine Abbildungen gibt, wurden in der Christentumsgeschichte Bilder gesucht und viele Bilder gefunden. Zuerst eher symbolartige: der gute Hirte, der Lehrer. Schließlich wurde mit der Ikonographie kaiserlicher Macht der Pantokrator zum dominierenden Bild: der König, der Richter, der Potentat. Zugleich mit dieser Verschiebung von der Zuwendung zur Konfrontation kam es zu einer Verschiebung ins Sakramentale, nicht ein Gesicht, sondern eine Hostie, eine Verschiebung in Dingliche: das Schweißtuch … Vom spätantiken Bilderstreit über Franziskus bis zur Reformation gab es aber auch Widerstand dagegen: Re-formatio! – hieß und heißt: die Forma (Gestalt, Bild) dieses Gegenübers suchen, dieses Angesicht wiederfinden!
Es wird Sie, liebe Mitchristen, nicht überraschen, wie kraftvoll sich dieser Widerstand bei Ulrich Zwingli findet, dem Zürcher Reformator, dem Urreformierten. In einer entscheidenden Predigt sagte er: „Man muss das edle Angesicht Christi, das von belastender menschlicher Überlieferung übertüncht, entstellt und verschmiert worden ist, wieder reinigen und säubern. Dann wird uns Christus wieder lieb.“ (in: Die freie Wahl der Speisen, 1522). Und stimmt es nicht? – Wenn wir an die genannten Jesusbilder denken, an all jene Übermalungen, Verschiebungen, Entstellungen des so menschlichen Gesichts Christi in der Theologiegeschichte! Bis heute: Jesus nicht nur als byzantinischer Pantokrator, auch als Revolutionär und 68iger, als sanfter Esoteriker, als erster Feminist, als blonder, „europäischer“ Prediger ….
Die Leidenschaft und die Kraft Ulrich Zwinglis und seiner vielen Mitstreiter lebt von der Freude über die Wiederentdeckung dieses Gesichts, vom Euangelion (der Guten Nachricht), der Entdeckerfreude, die mit der Wiederentdeckung der Bibel zu tun hat. Einer Schrift, die jenes Antlitz, jenes so menschliche Gesicht wieder sichtbar werden ließ, jenes Gesicht, auf dem das göttliche Angesicht wieder lesbar wurde.
Wiederentdeckung – man stößt dann auch auf die Bewegung des Humanismus, auf die Wiederentdeckung der Antike, der „heidnischen“, aber eben auch der christlichen. Man stößt hier auf Zwingli, den Schüler des großen Humanisten Erasmus von Rotterdam. Zwingli hatte in Basel studiert und in der Glarner Zeit seine Erasmuslektüre vertieft. Erasmus ironisiert schon im „Lob der Torheit“, dass man ein mit Kohle gezeichnetes Bildchen von Christus mit derselben Inbrunst wie Christus selber anbeten könne, nur weil ein Heiligenschein drauf gezeichnet sei … Er ist nicht grundsätzlich gegen Bilder, aber seine Überzeugung ist es, dass sich im Wort eine viel stärkere, tiefere Zuwendung ereignet als in Bildern und Dingen: „Du erweist also einem grob in Stein oder Holz gehauenen oder mit Farben gepinselten Abbild des Antlitzes Christi Ehre. Viel frömmer wäre es, das Bild seines Geistes zu ehren, das durch den Heiligen Geist in den Schriften des Evangeliums wiedergegeben ist. … Du glaubst, es sei das Grösste, dass du zu Hause ein Stücklein des Kreuzes besitzest. Doch das ist nichts im Vergleich dazu, dass du das Geheimnis des Kreuzes in dir trägst.“ Das ist eine reformatorische Theologie des Wortes, die Erasmus mit Luther und Zwingli teilt!
Wir können uns heute kaum noch vorstellen, welch starke, in helle Theologie und in dunkle emotionale Regionen hineinreichende Bilder das waren, die diese Übermalungen, Verschiebungen, Ideologien so plausibel und deshalb so schwer durchschaubar machten! Kaum vorstellen, wie schwer es war, die biblischen Texte in ihrem ursprünglichen Sinnzusammenhang wieder lesen zu lernen, deren Wortschatz, deren Grammatik zu verstehen. Es war aufgrund der intensiven philologischen, theologischen und historischen Arbeit des Erasmus, Luthers, Zwinglis, dass jenes so lebendige Gesicht Christi plötzlich wieder zu sprechen begann. Dann, wenn der Pantokrator, wenn der Höllenrichter, wenn der Oberlehrer, wenn der Moralapostel weggewischt und solche Übermalungen wegrestauriert werden, und dann ein lebendiges Gesicht wieder zum Vorschein kommen kann. Ein Gesicht, dessen Stärke seine Schwäche ist, nämlich die Liebe, dessen Vernunft kein Herrschaftswissen, sondern Wahrnehmung und Weisheit ist, dessen tiefer Ernst etwas Fröhliches, ja etwas Schelmisches und Humorvolles hat. Und entgegen allen Vorurteilen vom ernsten, harten, asketischen Zwingli – er hatte Humor und Lebensfreude.
Wenn ich sagen müsste, was mich an Zwinglis Entdeckerfreude so begeistert, so ist es diese Freude der Wiederentdeckung jenes menschenfreundlichen Gesichtes Christi, das auf Gott hin transparent wird und uns zeigt, wie wir wieder menschlich werden können.
Nicht nur ein Gesicht, liebe Schwestern und liebe Brüder, liebe Mitchristen, so wie wir selber ja auch nicht nur ein einziges, starres Gesicht haben, sondern jene lebendigen und so unterschiedlichen Gesichtszüge, die auf keine ideologische Maske zu reduzieren sind:
- Das Gesicht Christi am Jordan bei der Taufe – das helle Licht auf seinem Antlitz, weil er eine Gewissheit geschenkt bekommen hat.
- Das Gesicht des Predigers, der zu den Menschen redet, sie wirklich anspricht und nicht einfach anpredigt, Worte, die Herzen öffnen und Köpfe erleuchten.
- Das mitfühlende Gesicht dessen, der Verzweifelte und Desorientierte anspricht und sogar von Bäumen herunterholt.
- Das zur Erde hinunter gesenkte Gesicht des Rabbis, der von hasserfüllten Männern umringt ist, die den Tod jene Frau wollen, und sich dabei als Rechthaber noch voll im Recht fühlen.
- Das nachdenkliche Gesicht dessen, der den reichen Jüngling traurig weggehen sieht.
- Und dann das ernste, tief erschütterte Gesicht des Leidenden, der von all dem Hass und der Verblendung der Menschen getroffen ist – der aber schließlich sagen kann: „nicht mein, sondern dein Wille geschehe“!
Wenn auch wir versuchen wollen – wie Zwingli uns so freundlich und bestimmt einlädt, das entstellte, das übermäßig geschönte und geschminkte oder das hässlich übermalte Gesicht Christi gedanklich von allen Übermalungen zu reinigen – so lautet die Grundfrage, die reformierende und reformatorische Grundbewegung: Wie kann ich Gott selber auf und in diesem so menschlichen Gesicht Christi wieder sehen lernen? Wie kann ich dieser großen Botschaft vertrauen, dass Gott selbst auf einem menschlichen Gesicht und in einem menschlichen Leben sich gezeigt hat, gleichsam transparent wurde, das Gesicht eines Gottes, der so anders ist, als wir bislang dachten oder hofften oder fürchteten. Es ist ein Menschengesicht, das uns die Nähe, die Ebenbildlichkeit Gottes ahnen lässt. Ein Gegenüber, das uns etwas von unserer menschlichen Würde zurückgibt – und uns neu gegenseitig in unsere Gesichter schauen lässt, weil in jedem von uns etwas von diesem Geheimnis Gottes zu finden ist.
Gebet:
Ewiger Gott, du gibst nicht nur uns Menschen Nahrung, sondern allen lebenden Wesen, Nahrung für den Körper und Nahrung für die Seele. Nähre und sättige du unsere Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit, zeige uns Wege, wie wir zu Werkzeugen deiner Versöhnung werden können. Wir wissen, wie oft wir uns in Worten und Taten verfehlen, Dinge tun und Worte sagen, die weder getan noch gesagt werden dürften. Wir wissen um das Elend in der Welt, an dem wir beteiligt sind.
Nach deinem Bilde hast du uns erschaffen, unserem Leben eine innere Mitte gegeben. Wir bitten dich für den heutigen Gottesdienst, lass uns von deinem Worte und deiner Wahrheit kosten, sei du mit deinem Geist mitten unter uns. (Nach einem Gebet Zwinglis neu formuliert)
Elemente für das Fürbittengebet:
Guter Gott, in Dankbarkeit denken wir an all jene, die deinen Spuren folgen, Gesicht zeigen und Menschlichkeit leben. Wir bitten dich für all jene, die deinem menschlichen Gesicht und deinen Worten vertrauen und etwas von deiner Wärme in der Welt leben. Schenke Kraft und Hoffnung all jenen, die leiden müssen, weil sie für Menschenrechte und Menschenwürde einstehen.
Psalmvorschlag: |
Psalm 27, v. a. Ps. 27.8–9 |
Epistel: |
2. Korinther 4,6 |
Evangelium: |
Johannes 14,7–9 |
Liedvorschläge: |
155 (Herr Jesu Christ, dich zu uns wend) |
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EG Württ 600 (Wie der Hirsch aus frischer Quelle) |
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262 (Sonne der Gerechtigkeit) |
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242 (Herr nun selbst den Wagen halt – Zwinglis Lied) |
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64 (Von guten Mächten) |