Wer reist, denkt positiv

Wer reist, denkt positiv. Hat die Erwartung, Neues, vielleicht sogar Besseres, jedenfalls Bereicherndes zu erfahren. Reisende sind positive Menschen. Das gilt selbst für Menschen, die zum Reisen gezwungen sind, für Millionen Menschen, die vor Hunger, Armut, Krieg oder Naturgewalten auf der Flucht sind.
Die Reisenden in der Bibel gehören eher zu dieser Kategorie. Sie fliehen vor Machthabern oder wandern aus in ein „gelobtes Land“. Sie suchen Brot und Auskommen für die Familie oder ziehen mit dem Regen entlang der Wüste von Weide zu Weide. Sie folgen charismatischen Führern oder dem Befehl ihres Gottes, den die Väter oder Propheten stellvertretend erfahren haben. Einer traut dem anderen. Einer hört, und alle gehen. Einer sieht, und alle machen sich auf den Weg. Unterwegs kommen die Zweifel: Auf was haben wir uns eingelassen? Wie soll das gut gehen? Das dauert. Was wird aus unseren Kindern?
Immer wieder neu muss Gott das Herz der Reisenden stark machen. Immer wieder müssen seine Boten kämpfen gegen Resignation und Besserwisserei. Der göttliche Marschplan reicht nicht: „Das schaffen wir nie!“ Die göttliche Landkarte ist umstritten: „Wohin sollen wir gehen?“

Wer reist, denkt positiv. Das ist ein Wunsch der Reiseveranstalter. Längst aber nicht Wirklichkeit. Denn schon beim Verlassen der gewohnten Umgebung, beim Einsteigen in den Bus, beim Abheben von der Startbahn stellen sich die ängstlichen Fragen ein: Habe ich die Herdplatten alle …? Hast du das Wasser im Garten …? Werden die Kinder ohne uns …? Werden die Hotels …?

Und dennoch: Wer reist, denkt positiv. Sonst hätten sie und er sich nicht auf den Weg gemacht. Reisende sind positive Menschen. Reisende halten Wege für gangbar, trauen Brücken eher als Vorurteilen. Geben dem Teufel Fersengeld und trauen den Engeln über den Weg.

In China habe ich ein Sprichwort kennen gelernt: „Ein Mal sehen ist besser als Tausend Mal hören.“ Was bedeutet: Ein Mal erleben ist besser als Tausend mal darüber lesen oder davon erzählt bekommen.

Keiner kann stellvertretend deine Erfahrungen machen. Das ist tragisch. Aber das ist so.
Ich bin mir sicher, dass fernab jeder Wissenschaftlichkeit jeder „Weg“ ein „Wagnis“ ist. Ich bin überzeugt, dass im tiefsten Sinn jede „Reise“ weg-führt, Richtung und Ziel in Zweifel stellt. Das macht jede Reise spannend. „Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen“ sagt der Volksmund. Ich ergänze: „Wenn einer eine Reise tut, dann muss er was riskieren.“

Woher kommt eigentlich etymologisch das Wort „Reise“?
Im Germanischen hat „reisen“ zwei Bedeutungen: Einmal bedeutet es „aufheben, aufstehen“, sich aufmachen, aufrüsten, zurüsten. Darin ist es mit dem Englischen „rise“ verwandt. Wenn die Sonne aufgeht, sprechen die Angelsachsen vom „sun-rise“. Selbst die Sportart „Reißen“ beim Gewichtheben erinnert noch an diese alte Bedeutung.
Dann aber wird die Bedeutung militant. „Reisen“ bedeutet im alten Deutsch auch „einen Kriegszug unternehmen“. „Reise“ ist der Aufbruch zum Krieg. Wenn sich ein „Ritter“ – der reisende Reiter – auf die Reise machte, dann zog er in den Krieg, hatte sich gerüstet und sich aufgemacht.
Erst später wird „Reise“ allgemeiner – in unserem heutigen Sinn – verstanden als „Bewegung von Ort zu Ort“.
Zu den beiden genannten Bedeutungen des Reisens tritt eine dritte: die Beschwernis, die Qual, die mit der Reise verbunden ist. So nennt man im Englischen eine längere Reise, zumal in fremde Länder „travel“. Dies wiederum führt sich interessanterweise zurück auf das französische „travailler“ – arbeiten, bearbeiten – bzw. auf das romanische „trepilare, tripiliare“ – foltern (und zwar mit dem trepalium foltern, mit einem „Dreistock“). Die Einzahl des französischen travail – Arbeit – kennt einen doppelten Plural: traveaux – Arbeiten – und travails – Folter.
Wir spüren: Reisen machte Mühe, brachte Qualen mit sich und wurde gelegentlich gar als Folter empfunden.
Wandern wir bei der Wortbedeutungssuche noch etwas weiter: Eine kleinere Reise wird man im Englischen wie im Französischen „voyage“, im Spanischen „viajar“ nennen. Dies kommt aus dem Lateinischen „viaticum“ und bedeutet schlicht den zu gehenden Weg. Ähnlich unspektakulär die Herleitung von „journey“. So bezeichnet man eine „Tagesreise“ – lat. diurnum. Allerdings hat das Französische „journee“ noch beide Bedeutungen: Tagesarbeit und Tagesreise, steht aber auch einfach für einen Tag.
Im Hebräischen, der Sprache des Alten Testaments, kann der Begriff däräkh den Weg bezeichnen, aber auch die Reise, Unternehmung, und Kriegszug. däräkh haláhk heißt dann reisen, wörtlich „einen Weg gehen“, „einen Weg trampeln“. Im Grunde ist eine Reise ein verlängerter „Trampelpfad“, auf dem einer in den Fußstapfen, in den Spuren seiner Vorgänger geht.
Es gibt darüber hinaus noch eigene Begriffe für „Wallfahrten“, ’aláh („hinaufziehen“; denn das Heiligtum liegt stets auf dem Heiligen Berg, auch wenn der nicht so hoch ist), oder für die Reisen der Nomaden, nasá’ hier ist die Grundbedeutung das Herausreißen und Herausgerissenwerden[aus den bisherigen lokalen und personalen Bindungen.
Der bekannteste Begriff im Griechischen, der Sprache des Neuen Testamentes, ist poreuesthai, im Grund seiner Bedeutung alles, was mit „vor oder voran“ zu tun hat: vorangehen, voranschreiten, also machen, dass etwas vorankommt.
Runden wir diese Reise durch den Bedeutungsdschungel ab mit einem Blick auf die Chinesischen Schriftzeichen, die für Reise stehen: Lue You. Das erste Zeichen steht für „Gast sein“, das zweite für „angenehm gehen, bummeln“. So verstehe ich auch meine chinesischen Freunde besser: Sie kämen nie wie unsereins auf die Idee, freiwillig einen Berg zu besteigen oder eine längere Wanderung zu unternehmen. Selbst in Tibet hielt man uns, die die Berge fast magnetisch anzogen, für verrückt: Warum zu Fuß gehen, wenn es Autos oder Sänften gibt? Wo wir uns Strapazen auferlegen, wollen sie angenehm bummeln und Gast sein. So waren auch nicht Tibeter, erst recht nicht die tibetischen und nepalesischen Mönche aus den hochgelegenen Klöstern die ersten auf den Gipfeln des Daches der Welt, sondern Europäer und Amerikaner. Dies nicht nur, weil die Berge heilig waren, sondern schlicht, weil das Besteigen so „unangenehm“ ist.

Heute sind wir nicht mehr – zumindest, so hoffe ich – militant unterwegs, müssen uns in der Regel auch nicht quälen. Selbst harte Strapazen nehmen wir freiwillig und gerne auf uns, würden nie von Folter sprechen. Wir begegnen allenfalls Fremden, aber nicht Feinden. Wir sind „unter-wegs“, wagen aber nicht unser Leben. Und dennoch ordnen wir vor einer längeren Reise unsere „Angelegenheiten“ und nehmen auf besondere Weise Abschied. Auch das ist gut so, erinnert es uns doch daran, dass jeder Weg ein Wagnis ist. Doch ohne Wagnis kein Leben.

Sie sind auch nicht auf dem Kriegspfad. Sie werden nicht gequält oder gefoltert. Sie dürfen sich freuen. Sie haben Ihr Bündel geschnürt. Ihnen reichen Ihre bisherigen Erfahrungen, die Bilder und die Bücher nicht. Sie haben sich auf den Weg gemacht. Haben sich eingestellt auf Überraschungen und sind offen für Erfahrungen. Je leichter Ihr Bündel geschnürt ist, umso beweglicher sind Sie. Je weiter Ihr Horizont ist, umso weniger kann man Sie enttäuschen. Je offener Ihr Visier, umso weiter Ihr Blick.

Gerhard Engelsberger

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

Pastoralblätter-Newsletter

Ja, ich möchte den kostenlosen Pastoralblätter-Newsletter abonnieren und willige in die Verwendung meiner Kontaktdaten zum Zweck des E-Mail-Marketings durch den Verlag Herder ein. Den Newsletter oder die E-Mail-Werbung kann ich jederzeit abbestellen.
Ich bin einverstanden, dass mein personenbezogenes Nutzungsverhalten in Newsletter und E-Mail-Werbung erfasst und ausgewertet wird, um die Inhalte besser auf meine Interessen auszurichten. Über einen Link in Newsletter oder E-Mail kann ich diese Funktion jederzeit ausschalten.
Weiterführende Informationen finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen.