Lieben im Überfluss
Monatsspruch Januar 2025: Lukas 6, 27–28
Christus spricht: Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen.
Ist die Lehre von der Feindesliebe eine totale Überforderung? Liegt in ihr im Falle realer Bedrohungen die Gefahr der Entsolidarisierung der bedrohten Gemeinschaft?
Betrachtet man die Worte Jesu als Gebot oder Anforderung, gar als Regel für eine Gemeinschaft, lässt sich eine solche Einschätzung nachvollziehen. So gelesen, widerspricht die Feindesliebe der Vernunft.
Doch liest man sie als sehr persönlich gemeinte „Zumutung“ oder „Ermutigung“, ändert sich die Perspektive. Denn hier geht es um den Mut zum „mehr …“, zum „darüber hinaus“, zum Vertrauen auf das Überfließende und Grenzüberschreitende, das Jesus selbst aus der Liebe Gottes gewinnt. Dieser Liebe traut er zu, dass aus ihr eine Kraft zur Heilung gewonnen wird – sogar denjenigen gegenüber, die völlig erstarrt und in ihrer Menschlichkeit zerstört sind.
Dabei bleibt die Liebe, auch wenn sie aus der Überfülle der Liebe Gottes schöpft, immer persönlich: Ein individuelles Risiko, das der oder die Einzelne im eigenen Leben eingeht. Einschließlich der Bereitschaft, die Konsequenzen zu tragen.
Das Wagnis liegt in einer aktiven, wirksamen Liebe, die von ihrer verändernden Kraft weiß. Im Aussteigen aus dem Teufelskreis von Vergeltung, Hass und Gewalt liegt zugleich eine Provokation. Lieben aus der Fülle der Liebe Gottes setzt auf die Kraft der Überraschung. Es provoziert durch eine veränderte Kommunikation mit dem Gegner. Eine besondere Form mutigen Widerstandes. Genau deshalb wurde und wird das Lieben aus der Fülle Gottes von vielen Mächtigen verfolgt bis zur Auslöschung. Denn es bringt eine Kraft und Stärke zum Ausdruck, die nicht durch weltliche Macht gewonnen wird und darum von dieser auch nicht bezwungen werden kann.
Wenn solches Lieben auf unversöhnte, ungeliebte, zerstörte Gegenüber trifft, zeigt das Wirkung – oft allerdings, indem es den Hass weiter anheizt. Darin liegt die Zumutung der Feindesliebe für diejenigen, die sich in ihr üben.
Jesus selbst hat mit seinem Leben diese Zumutung bis in die letzte Konsequenz gelebt. Er hat für seine Verfolger gebetet, hat noch am Kreuz für sie um Vergebung gebetet.
Mutige Einzelne wie der chinesische Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo sind ihm gefolgt. „Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass“, so begann Liu Xiaobo seine Rede vor dem Gericht, das zu seiner Verurteilung führte. Seine Verfolger hat das offenbar geängstigt. Noch nach seinem (vermutlich aktiv herbeigeführten) Tod setzten sie alles daran, jede Möglichkeit der Erinnerung an ihn zu zerstören. Doch Worte und Gedanken bleiben, weit über den Tod hinaus. Vor allem, wenn sie von der Liebe getragen sind.
Ein besonders schönes Beispiel für eine große Wirkung dieser „Zu-Mutung“ der Liebe stellt die friedliche Revolution in der damaligen DDR dar. Über viele Jahrzehnte herrschte zwischen Ost und West das sogenannte „Gleichgewicht des Schreckens“. Keine Aussicht auf Veränderung. Doch dann öffnete sich ein kleiner Spalt in der Mauer. Wehrlose Menschen gingen zu tausenden auf die Straßen. Sie versammelten sich in Kirchen. Sie sangen, entzündeten Kerzen, beteten. Heerscharen von Polizisten stellten sich ihnen entgegen. „Keine Gewalt!“ war die Devise unter den Protestierenden, sobald die Polizei mit Wasserwerfern aufmarschierte. So fiel die große Mauer, die zuvor unüberwindbar schien.
„Wir waren auf alles gefasst, nur nicht auf Kerzen und Gebete“, – sagten die damals Mächtigen rückblickend, selbst erstaunt über das, was geschah. Andere, neue Mächtige übernahmen anschießend die Führung. Der Beitrag christlicher Kirchen zur sogenannten „Wende“ geriet fast in Vergessenheit. Bei aller Kraft und Wirkung, die von der Liebe, besonders auch der Feindesliebe ausgeht: Sie setzt nie auf Sieg oder Macht. Vielmehr traut sie der Liebe Gottes zu, Menschen und vermeintlich unverrückbare Zustände zu verwandeln. Davon können, sollen und dürfen wir weiter in Wort und Tat erzählen, um viele für diesen Weg zu gewinnen.