Die Jahreslosung 2025

 Prüft alles und behaltet das Gute

Gedanken zur Jahreslosung (1 Thessalonicher 5,21)

13, 18, 21

„Prüft alles und guckt dann, ob wir ein behindertes Kind bekommen, oder was?“ Marcel glotzt verständnislos auf den Stapel an Broschüren, den Janine ihm in den Schoß geworfen hat. Ganz oben liegt eine kleine Faltbroschüre: „Bluttest auf Trisomien. Der nicht invasive Pränataltest (NIPT) auf Trisomie 13, 18, und 21“. Bis eben fand er noch, dass das matte, schwere Papier ganz gut in der Hand lag, aber jetzt, nachdem er die Broschüre überflogen und dann die Wikipedia-Artikel zu Trisomie 13, 18, und 21 überflogen hat und dann nacheinander die Suchergebnisse bei Google Bilder zu den Trisomien durchgescrollt ist, wirkt sie auf ihn wie ein vollkommen unwillkommener Fremdkörper in einer Welt, die bis eben mit scheinbar naiver Vorfreude dahingeplätschert war.
Janine guckt ihn verunsichert an und hält sich ihren Bauch, obwohl der noch gar nicht groß ist. Ihren Familien haben sie noch nichts erzählt. Ihm blitzt ein Gedanke durch den Kopf, den er gar nicht denken und ihr nie erzählen will: Wenn sie jetzt den Test machen und schnell abtreiben würde (abbrechen, korrigiert er sich gedanklich), dann müssten sie es ihren Familien gar nicht erzählen und könnten sich das Drama dort sparen. Er denkt an den Moment, als seine Mutter Menschen mit Trisomie 21 „Downies“ genannt und begeistert davon erzählt hatte, dass die immer so freundlich lächeln und ein sanftes Gemüt haben. Und er denkt daran, wie Janines Vater mal abends zwischen seinen Bieren brummte, ob das alles so gut sei; Menschen, die so krank sind, so richtig schwer behindert, dass die Leben müssen, wenn es ja auch anders ginge und man ihnen so ein Leben ja ersparen könnte, in ihrem Sinne. Naja, wüsste er ja nicht, er frage sich das nur manchmal.

„Willst du das denn?“, fragt sie.
„Hä, ein behindertes Kind oder was?“, antwortet er und sein Ton klingt so gereizt, dass er selbst darüber erschrickt.
„Alter, Marcel. Ob du möchtest, dass wir so einen Test machen, meine ich!“
Er sieht es schon, ihre Augen haben Tränenpotenzial, aber sie reißt sich zusammen, und irgendwie ist er dankbar. Er weiß, dass sie gerade genauso überfahren ist wie er, aber trotzdem.
Nach dem positiven Schwangerschaftstest hatten sie sich darauf geeinigt, sich nicht reinzusteigern; erstmal abwarten, vor der 12. Woche sollte man ja sowieso niemandem was sagen. Und trotzdem hatte er sich voll reingesteigert, stellte sich vor, wie es wäre, im Krankenhaus sein Baby auf der Brust liegen zu haben. Wie es dann wäre, später, wenn eine kleine Hand sich beim Einkaufen an seinem Zeigefinger festhielte, und dann viel später, wie er ihr Kind beim Fußballspielen (Mädchen spielten genauso gern Fußball wie Jungs, er fand sie so bescheuert, diese Leute, die glaubten, Mädchen wollten nur Puppen und Jungs nur Bagger und Bälle) anfeuerte und es nach Sieg oder Verlieren durch die Luft wirbelte.
„Marcel!“
„Janine, ich weiß doch auch nicht … wie wäre es, wenn wir erstmal abwarten, sacken lassen und zusammen drüber nachdenken? Müssen wir das denn sofort entscheiden, ob wir diesen Test machen wollen?“
„Nee, natürlich nicht. Ich glaub, ich hätte einfach lieber nichts davon gewusst, weißt du. Dass man das machen kann, das alles prüfen kann. Und überhaupt, Marcel, was machen wir denn, wenn dieser Test positiv ist? Behalten wir dann das Kind? Soll ich es abtreiben, die Schwangerschaft abbrechen, meine ich? Scheiße, ich hätte es einfach lieber nicht gewusst, dass man das machen kann. Weißt du, was ich mein?“. Sie holt tief Luft und will weiterreden und fängt an zu weinen. „Marcel! Und was, wenn wir das nicht machen, und das Kind ist so schwer krank, dass es nicht mal ein Jahr alt wird und bis dahin Schmerzen hat und es ihm nicht gut geht? Das steht da drin, Marcel, das steht da drin! Dann wäre es meine Schuld, weil ich’s lieber gar nicht wissen wollte.“
Er nimmt ihre Hand, und die andere Hand legt er auf ihren Bauch, obwohl der noch gar nicht groß ist. Und dann wissen sie zusammen nicht, was das heißt, dass man alles prüfen kann, und was dann das Gute ist, das man dann behalten soll.

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