Die Wende der Zeit

Liebe Leserinnen und Leser der Pastoralblätter,

da, wo deine Füße sind, beginnt die Wende der Zeit.
Da, wo sich alt und neu berühren, da stehst du nun,
im Mittelpunkt der Zeit. (Bosse, Wende der Zeit)
Dieser Song, dieser Refrain begleitet seit einigen Jahren mein Leben.
Beim Hören des Liedes wandert mein Blick wie immer unwillkürlich zu den Füßen hinab. Selbstkritisch zu den eigenen, und vergleichend dann auch zu denen der anderen, neben mir, in der U-Bahn, im Wartezimmer, an der Ampel, am Konferenz- oder am Esstisch.
Und natürlich vor dem Gottesdienst. Ein älterer Pfarrkollege sagte dem blutjungen Vikar, der ich mal war: Die beste Predigt kommt nicht gegen ungeputzte Schuhe an. Du kannst im Gottesdienst unrasiert sein, du darfst aus dem Maul stinken, dein Beffchen darf ungebügelt sein und schräg hängen, aber alle, alle werden auf deine Schuhe starren; wehe dir, wenn die nicht sauber sind.
Spätestens seit diesem Tag achte ich auf das, was da unten alles so vor sich geht. Denn dieser Blick nach unten erzählt hin und wieder mehr aus dem Leben als die erhobenen Köpfe darüber. Und der beiläufige Blick abwärts, mal zweifelnd mal staunend, verfängt sich schnell: Die geübten Augen sehen sofort die ungeputzten Schuhe, manchmal müssen sie sogar Strümpfe mit Löchern in Sandalen ertragen. Oder sie blicken erwartungsvoll auf gewienertes Leder und auf Absätze, die gerne etwas mehr Größe zeigen wollen. Sie betrachten aus dem Augenwinkel Schuhbändel, deren Schlaufen das richtige Maß gefunden haben oder über kurz oder lang zu Fallstricken werden. Kurz und bündig: Lebensgeschichten umkleiden unsere Füße.
Und diese gekrümmten Füße in diesen Socken und in diesen Schuhen und dieses kühl gepflasterte Stück Erde darunter markieren nun also die Wende der Zeit.
Seit seinem Erscheinen Anfang 2011 ist der Titel einer meiner festen Begleiter durchs Leben. Mitsummend, auch mal aus voller Kehle beim Fahren intoniert, gibt dieser Refrain mir Kraft, verleiht er dem grauen Moment Sinn; er bringt mich und meine Füße in Bewegung, schenkt mir gar Trost im Scheitern und Hoffnung im Aufbruch. Die Kraft des Liedes steckt in dem einfachen Gedanken: Wendezeit ist immer. Gott sei Dank. Eben nicht nur am ersten Tag eines neuen Jahres. Eben nicht nur im Herbst 1989, und eben nicht nur unter friedlich oder friedlos fallenden Mauern der Gegenwart. Nicht allein am Anfang eines Lebenstraumes oder am Ende einer Sackgasse. Wendezeit ist da, wo deine Füße gerade sind. Diese Minute, diese Sekunde. Jetzt. Veränderung ist jederzeit möglich. Und sie beginnt bei dir. Fang jetzt an.
Du bist schon zwei Wochen im neuen Jahr, wolltest fünf Kilo abnehmen, hast stattdessen zwei Kilo draufgepackt? Egal. Fang jetzt wieder an.
Du sehnst dich nach Frieden in hassbereiter Zeit? Egal. Fang jetzt an.
Du hattest keinen guten Übergang ins neue Jahr? Egal, fang jetzt einfach noch einmal an.
Da, wo deine Füße jetzt gerade sind, beginnt die Wende der Zeit. Geh los, fang einfach an.
Noch mitten im kritischen Blick auf die eigenen Füße stellt sich der alte Psalmbeter neben mich und flüstert mir zu: Deine Füße stehen auf weitem Raum. Nun geh schon los.

Losgehen. Ein gutes Stichwort, um auch den Weg der Pastoralblätter in ein neues Jahr, in eine neue Zeit zu beschreiben. Der langjährige Schriftleiter und gute Freund Gerhard Engelsberger hat nämlich seine großartige Arbeit und damit eine ganze Ära Pastoralblätter mit Ende des Jahres 2024 beendet. Er hat seine Arbeitsschuhe nun sprichwörtlich unter die Ofenbank geschoben, aber zum Glück den Schreibgriffel nicht aus der Hand gelegt. Und das ist wichtiger. Im Leben und Beruf hat er die Schuhe sowieso meistens achtlos abgestreift, denn der Gerhard Engelsberger, wie wir ihn kennen, zeigt immer Gesicht und Füße mit ganzem Herz und wachem Verstand. Seinen Texten und Gedanken und den Begegnungen mit ihm ist seine Offenheit ja Barfüßigkeit abzuspüren, sein ungeschütztes, doch beschützendes Stehen unter den Menschen und mit Blick auf Gott. Und wer ihn liest oder sogar das Glück hat, ihm zu begegnen, spürt zugleich den Boden unter den Füßen und den Himmel über sich, ab und zu auch den Regenguss und die Pfütze, wenn Gerhard sich um die Welt sorgt wie kein zweiter. Was für eine Kämpferseele und ein Unikat als Mensch, ein unverbesserlicher Menschen- und Gottesliebhaber, und erst recht ein unermüdlicher Schriftleiter der Pastoralblätter. Wir verabschieden heute Gerhard Engelsberger in den Unruhestand bei den Pastoralblättern und sind heilfroh, dass er uns als Autor weiterhin mit seinen Texten und Gedanken zur Verfügung steht.

An der Tür vor den Pastoralblättern stehen nun mehrere Paar Schuhe und markieren ebenfalls eine kleine Zeitenwende. Aus halb Deutschland kommen die Füße, die sie tragen. Manche rennen tagsüber durch die Uni, andere schweben durch Räume von Kirchengemeinden, ein Paar tritt durch die Türen von Gefängniszellen, und vor dem Gottesdienst putzen sie alle ihre Schuhe. Ein kleines buntes Redaktionsteam kümmert sich nun künftig um die Pastoralblätter. Und ist weiterhin neugierig auf Predigten und Texte, die nicht nur richtig sein, sondern vor allem etwas wagen wollen. Und damit einiges zu sagen haben.
Sie folgen damit den guten Spuren, die bereits gelegt sind. Fast hundert Autorinnen und Autoren aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz begleiten Sie mit ihren Gedanken und Texten für die Pastoralblätter auch künftig durch das Kirchenjahr, und zunehmend auch konfessionsübergreifend. Wenn Sie noch nicht dabei sind, aber auch gerne einmal einen Beitrag schreiben möchten, melden Sie sich gerne bei mir.

Vieles bleibt auch in diesem Jahr vertraut in den Pastoralblättern. Die gelegten Spuren sind gut. Sie finden weiterhin verlässlich je eine Langpredigt und eine Kurzpredigt zu den Predigttexten des jeweiligen Sonntags im Kirchenjahr, dazu interessante Alternativpredigten und Impulse zu Andachten an besonderen Orten oder mit bestimmten Zielgruppen, zum schnellen Gebrauch auch Gedanken zu Monatsspruch und Wochensprüchen.
Unter der biblischen Einsicht, dass alles seine Zeit hat, sammeln sich die Monatshefte dieses Jahres auch thematisch um besondere Zeiten.
Das Heft, das Sie nun zu Beginn des Jahres in Händen halten, betrachtet das Leben naheliegend unter dem Leitgedanken: Zeit für einen Neubeginn. Sie finden zur neuen Jahreslosung gute Gedanken und eine eigene Predigt, aber auch, anlässlich des 240. Geburtstages von Jacob Grimm am 4. Januar, Betrachtungen und Impulse zu Märchen und ihrem Verständnis von Neubeginn. In der Erinnerung an 80 Jahre Frieden und das Jahr des Neuanfangs nach dem zweiten Weltkrieg bekommen Sie auch eine Predigt zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar an die Hand.
Nicht neu, aber ausführlicher ist eine Rubrik, die vertraute Buchempfehlungen und nun auch Medientipps bietet, die z.B. Filme und Serien, aber auch besondere Musik in den Blickpunkt nimmt.
Passend dazu bekommen Sie heute schon einmal den Gedanken des Pop-Poeten Bosse mit auf den Weg: Da, wo deine Füße sind, beginnt die Wende der Zeit.
Geh los. Gott stellt deine Füße auf weiten Raum. Mit der Dichterin Hilde Domin gehen wir noch einen Schritt weiter, wenn sie schreibt: Ich setzte den Fuß in die Luft, und er trug.

Mit herzlichen Segenswünschen für Ihr neues Jahr
grüßt Sie Ihre Pastoralblätter-Redaktion

und Ihr Jochen Lenz als Schriftleiter

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