Du tust mir kund den Weg zum Leben
(Psalm 16,11)
Im letzten Vers von Psalm 16 bringt der Beter mit wenigen Worten sein Bekenntnis zu Gott zum Ausdruck: Du tust mir kund den Weg zum Leben. Sein Leben ist getragen von einem tiefen Vertrauen in Gott, das er in jedem Vers seines Gebets bekennt. „Bewahre mich Gott, denn ich traue auf dich.“ So beginnt sein Gebet, und der Beter scheint sich bewusst zu sein, dass sein Vertrauen eine Gabe Gottes ist. Dieses Vertrauen ist in sein Herz eingeschrieben, und dankbar nimmt er diese Gabe an. Der Vers des Monatsspruchs erinnert mich an die Entscheidung, vor die Mose das Volk Israel stellt. Er erinnert an die Gebote der Tora und ruft zur Entscheidung zwischen Leben und Glück oder Tod und Unglück auf. Mose spricht: „Liebe den Herrn, deinen Gott. Gehe auf seinen Wegen“ (Deuteronomium 30,15–20). Auf Gottes Wegen gehen heißt, seinem Ruf zu folgen. Es geht darum, Leben in einem umfassenden Sinn zu gewinnen, indem wir tun, was wir tun sollen. Dabei geht es nicht darum, einer Norm gerecht zu werden.
Der Ruf Gottes wird konkret in Bund und Gesetz. Beides sind Gottesgaben an sein Volk Israel. Der Bund ist nicht revidierbar, Gott ist ihn auf ewig mit seinem Volk eingegangen. Was das Gesetz betrifft, so ist es eher als Weisung zu verstehen. Der Begriff Gesetz erweckt den Eindruck der ewigen Geltung, in Stein gemeißelt, unveränderbar für immer. Der Begriff Weisung ist hier nicht so starr, er lässt eine Entwicklung im gesellschaftlichen Dialog zu. Dieser Dialog ist zu allen Zeiten geführt worden, von den Propheten bis hin zum frühen Judentum zur Zeit Jesu und darüber hinaus bis heute. Jesus selbst hat in diesem Dialog gestanden, ohne jedoch das Feld der Tora zu verlassen. Dabei ging es immer darum, in diesem gemeinschaftlichen Ringen den Sinn des Lebens aufzudecken und deutlich zu machen, dass wir die Verantwortung für das Leben auf Erden haben. Die uns übertragene Sorge für Gottes Schöpfung nimmt uns in diese Verantwortung. Das gilt für uns als Einzelne und als Gesellschaft. Die Rückbesinnung auf Gottes Bund und Weisung kann uns den Weg zeigen, der zu gehen ist. Der Prophet Jesaja hat zu seiner Zeit gesehen, wie Menschen von diesem Weg abkommen können und wie sie blind auf den Abgrund zulaufen: „Wir hatten uns verirrt wie Schafe. Jeder kümmerte sich nur um seinen eigenen Weg.“ (Jesaja 53,6) Auch der Beter von Psalm 16 sieht die Gefahr, dass andere Wege in die Irre führen können.
Wenn jeder nur auf seinen Weg sieht, dann schließt das von vornherein jedes Gespräch mit anderen aus. Dabei denke ich an ein heute mehr denn je notwendiges Gespräch zwischen Angehörigen verschiedener Religionen. Angesichts einer religiös vielfältigen Gesellschaft wie der unseren darf dieser interreligiöse Dialog nicht ausschließlich auf Begegnungen offizieller Religionsvertreter beschränkt sein. Ebenso wichtig ist es, dieses Gespräch auch in unserem Alltag zu suchen und zu führen. Gelegenheiten dazu sollten sich finden, wenn wir nicht nur auf unseren Weg schauen. Ich bin mir bewusst, dass ich dann keinen Absolutheitsanspruch auf meinen Weg erheben kann. Den darf ich aufgeben, ohne von dem Weg abzuirren, den Gott mir kundtut. Die Liebe gegenüber den Mitmenschen und das Vertrauen in Gott schließt Toleranz gegenüber Menschen anderen Glaubens als des meinen ein. Das schmälert nicht die Bedeutung, die der letzte Vers von Psalm 16 für mich hat. Dem Ruf zum Leben folgen und die Verantwortung übernehmen, die aus diesem Ruf erwächst. Und das heißt, an der Verwirklichung eines guten Lebens in Gerechtigkeit und Frieden zu arbeiten. Mit allen Menschen, die guten Willens sind.
„Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne zu deiner Rechten ewiglich.“