Liebe Leserinnen und Leser der Pastoralblätter,
woran der Philosoph Heraklit von Ephesos im Übergang zum 5. vorchristlichen Jahrhundert an der heutigen türkischen Westküste wohl gedacht haben mag, als er seine Gedanken zum beständigen Wandel fand? Ich sehe ihn in einen Fluss starren, dem Wasser hinterherblicken (alles fließt), an seine Kindheit denken, vielleicht an seine altgewordenen Eltern, und den Kopf schütteln über die ständige Verwandlung von allem, was ihm gerade noch vor Augen und wichtig war.
Da klingelt das Telefon. Mein altgewordener Vater lässt mich über meine betagte Mutter fragen, wie er Daten von der externen Festplatte auf den neuen Computer übertragen kann. Er war in seinem Berufsleben Computerprogrammierer. 25 Jahre genügen, dass sich die Technik vollständig gewandelt hat und mein Vater ratlos vor seinem früheren Lebenswerk steht. Und die Mutter, die vor 25 Jahren noch ihre Fotos fein säuberlich und mit handschriftlichen Kommentaren versehen in ein Bilderalbum hineinklebte, möchte nun ihrerseits wissen, wie sie denn Smartphone-Bilder übers Internet in ein Fotobuch hochladen kann. Mindestens dreimal fällt das Wörtlein „früher“ in diesem Gespräch. Kein Wort beschreibt den beständigen Wandel besser als ein seufzend eingestreutes „früher“.
Nach dem Umzug aus dem schönen Südharz in den schönen Schwarzwald vor einigen Monaten besuchte ich die Grundschule, an der ich fortan unterrichten darf. Auf meine Frage nach den Klassen- und Notenbüchern blickte mich die junge Schulleiterin erstaunt an und wollte wissen, aus welcher Zeit ich denn gesprungen sei. Sie drückte mir ein Ipad in die Hand sowie drei Apps aufs Auge, ganz leicht aufs Handy herunterzuladen. Nichts ist so beständig wie der Wandel. Und nichts macht den Wandel sichtbarer als ein neuer Tag, eine neue Zeit.
Warum also nicht auch das Leben in all seinen Verwandlungen beschreiben und sortieren? Irgendwann reifte in mir die Idee, je fünf besondere Vinylalben aus jedem meiner bisherigen Lebensjahre zu sammeln und so von Jahr zu Jahr der Verwandlung in der Musik nachzulauschen. Angefangen bei Nina Simone und ihrem bezaubernden Live-Album „Nuff Said“ aus dem Jahr 1968 bis gegenwärtig zu Peter Fox und seinen umwerfenden „Love Songs“ aus dem Jahr 2023 reicht die Spannweite der Verwandlung. Zugegeben, der Auftritt von Adriano Celentano in dem Fox-Titel „Toscana Fanboys“ wirbelt die Zeiten in mir durcheinander. Aber auch die raue Stimme des coolen Italieners ist älter geworden. Die Verwandlung ist unaufhaltsam.
Ich entdecke den Wandel in der Musik meines Lebens und bin getragen von dem Wunsch, dann irgendwann, wenn ich die Welt um mich vergessen haben werde, mich wenigstens in diesen akustischen Wandelhallen noch zuhause zu wissen. In etwas, was mir (und vielleicht von mir) übrig bleibt bei aller Veränderung.
Ähnlich beginne ich mein Leben nach Büchern zu sortieren und dem Wandel der Literatur in meinem Leben nachzulesen. Das fing einmal mit „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz an und endet momentan bei Tonio Schachingers „Echtzeitalter“.
Meine Freunde machen bereits Nerd-Tendenzen in meiner Sammelwut aus. Und da hilft es mir auch nicht, dass ich begeistert Studiengründe anführe, die dem Wandelgedanken Heraklits auf der Spur bleiben wollen. Das ist auch nur halb geschwindelt. Die andere, weitaus größere Hälfte gehört der nagenden Frage: Was bleibt eigentlich im Leben?
Meine Familie immerhin schimpft nicht über diesen Wandel-und-Bleibe-Sammeldrang. Sie müssen nicht mehr fragen, was ich mir zum Geburtstag wünsche. Eine meterlange Buchliste leitet sie durch die kommenden Jahrzehnte.
Zum Beispiel zu Thornton Wilders „Der achte Schöpfungstag“, einer der wichtigen Romane, die in meinem Geburtsjahr 1968 in Deutschland veröffentlicht wurden. Ein dickes Buch, das irgendwann einmal auf verschlungenen antiquarischen Wegen zu mir fand. Und irgendjemand hat „früher“ einmal mit Kugelschreiber die handelnden Personen in den Buchdeckel geschrieben, um ja niemanden zu vergessen. Auch das gab es. Früher.
Das dicke Buch beschreibt mit feinem Humor und einer alles umarmenden Menschenliebe den teils mutigen teils notgedrungenen Aufbruch im Wandel der Zeiten. Die Lebensverwandlung ganz vieler Menschen wird nicht nur ausgelöst durch gesellschaftliche und technische Wandlungen früherer Zeiten, sondern vor allem durch den seltsamen Mord an einem Bergwerkvorsteher in einer kleinen amerikanischen Stadt und seinen Folgen. Angeklagt und zum Tode verurteilt wird einer der Mitarbeiter, zugleich der einzige Freund des Ermordeten, obwohl er seine Unschuld beteuert und die Umstände, die zur Ermordung des Chefs führten, im Nebel von Spekulationen feststecken.
Während eines Gefangenentransportes befreit nun eine Gruppe maskierter und schweigender Menschen den Verurteilten ohne jeden Einsatz von Waffengewalt, setzt den Überraschten auf ein Pferd und weist ihm den Weg durch den Wald, dann links ab in ein neues Leben und in die Freiheit hinein. Es verschlägt den Flüchtenden unentdeckt bis nach Chile.
Aber nicht nur seinen Lebenswandel beschreibt Wilder eindrucksvoll, sondern im selben Maße den der Familie, die er zurücklassen musste, seine Frau, seine Kinder, die nun mit der Situation zuhause klarkommen und ihrerseits in ein verwandeltes Leben aufbrechen müssen. Ganz nebenbei und angenehm leise beschreibt die Verwandlung damit aber auch deren Befreiung – aus der Trauer um den Vater, aus den Vorurteilen einer Kleinstadt, aus den Rollenbeschreibungen, die ihnen ihre Zeit als Frau, als Kind zuschreiben wollte. Freiheit hat also auch etwas mit Verwandlung zu tun.
Sie wandeln durchs neue Leben. Getragen wird die Familie aber mindestens so sehr von dem Wunsch nach etwas Bleibendem: dem Bleiben des Vaters in ihrem Leben, dem Bleiben der Familie als Familie; und auch, wenn einige Familienmitglieder zu allen Weltenden aufbrechen, nach dem Bleiben in allem Wandel. Sie senden von überall Geld an die Mutter, um das alte Haus zu halten. Etwas soll unbedingt bleiben. Der Wandel lässt sich besser gestalten im Wissen darum, was bleiben soll.
Beständigkeit und Aufbruch, Freiheitsliebe, die Sehnsucht nach dem Bleiben, all das verbirgt sich in den Verwandlungen des Lebens. In der Musik, in der Literatur, ja auch in technischen Neuerungen und in den Nachrichten, die uns in diesen Jahren umtreiben mit ihren Kriegstrommeln, tritt immer wieder die Verwandlung und ihre Sehnsucht zutage.
An einigen Stellen in den Evangelien schickt auch Jesus seine Jünger ins Leben und in die Verwandlung hinaus. Er ermutigt sie zum Aufbruch. Sie brechen zu zweit auf und wandeln in seinem Namen, schütteln hier und da den Staub von ihren Füßen und ziehen weiter, werden hier und da aufgenommen, bleiben gerne für eine Weile, sammeln gute Entdeckungen mit sich und anderen, wandeln dann weiter durch ein beständig sich verwandelndes Leben.
Oder sie sitzen gemeinsam in einem Boot, rudern gemeinsam über das Wasser, geraten in einen Sturm, verkriechen sich unter den Bordwänden, sehnen sich nach Bleiben und Leben. Alles unter ihnen fließt, alles ist in Bewegung, und sie, mittendrin, wollen doch nichts weiter als bleiben.
Ob mitten auf dem See, ob an einem Felsengrab am Ostermorgen oder in ihrer galiläischen Heimat: Es erreicht sie ein Wort der Begleitung. Ein Wort des Bleibens: Ich lebe, ihr sollt auch leben. Ein Siehe, ich bin doch bei euch bis ans Ende der Zeit.
Ein Vater, den man nicht sieht und der doch da ist. Eine Mutter, die im alten Haus lebt und um die man auch von Ferne weiß. Eine Freundschaft, die sich monatelang nicht sieht und dann fröhlich an das letzte Wiedersehen anknüpft. Eine bleibende Friedenshoffnung, die sich über alles Kriegsgeschrei legt. Das göttliche Wort: Ich bin bei dir in allem, was du tust. Das Bleiben im Wandel, auch im Glaubenswandel, das Beständige in aller Verwandlung des Lebens. Das Bleibende in der Musik, in literarischen Gedanken, das bleibende Bild von Heraklit am Fluss, ein Gottesgeschenk mitten im Leben, mitten in aller Veränderung. Verwandlung, ja, aber auch Bleiben, Tag für Tag. Gott sei Dank.
Zeit für Verwandlungen (und Bleiben) ist im Hintergrund auch das Thema dieser Ausgabe der Pastoralblätter. In einer Zeit, in der sich bis zum Aschermittwoch viele sehr sichtbar verwandeln werden, zum Teil bis zur Unkenntlichkeit, legt sich der Blick auf dieses Thema nahe. Sie finden eine entzückend gereimte Predigt zur Verwandlung der Frau und nicht nur zur Karnevalszeit in diesem Heft.
Und können mit mir auch darüber staunen, dass Gott sich gerne in einem Jazzclub finden lässt. Zu diesem Ergebnis kommen die Filmserie „Preacher“ und unser Autor, ein begnadeter und begeisterter Jazzpianist.
Immer wieder staunen muss ich auch über die Verwandlung der Predigt in besonderen Zeiten. An vier Beispielen aus unterschiedlichsten Zeiten der Pastoralblätter lässt sich der aus heutiger Sicht mal geglückte mal tief erschreckende Versuch ablesen, Bleibendes hinter der Verwandlung zu beschreiben: 1859, im ersten Band der Pastoralblätter überhaupt, findet sich die überraschend empathische Trauung eines Witwers mit einer Witwe, gefolgt von einem Beitrag, der den „germanischen Kriegshumor“ zu Beginn des Ersten Weltkrieges bejubelt und ein tiefes Entsetzen in mir hinterlässt. Dann eine bischöfliche Predigt aus dem Zweiten Weltkrieg, die das beredte Schweigen einiger Geistlicher jener Jahre zwischen den Zeilen hörbar macht, und zuletzt die souveräne und überaus soziale Predigt einer Pfarrerin (mit atemberaubender Biografie) aus dem Jahr 1974, die sich mit dem Begriff Liebe bei Paulus auseinandersetzt.
Immer wieder einmal werden wir in den kommenden Heften und Jahren auch ältere, beispielhafte Predigten noch einmal veröffentlichen, zum Erstaunen, zum Erinnern, ja, auch einmal zum Erschrecken, und immer zum Wandel.
Sie sehen, es gibt einiges zu entdecken neben allem, was Sie für Ihre tägliche Arbeit in der Gemeindepraxis an Texten im Kirchenjahr in diesem Heft suchen.
Viel Spannung und Freude beim Wandeln durch dieses Heft
wünschen Ihnen
Ihr Redaktionsteam der Pastoralblätter
und Ihr Jochen Lenz (Schriftleitung)