„Was fürchtet ihr euch? Habt ihr noch kein Vertrauen?“ Dieses Motiv zieht sich durch die Evangelien. Immer wieder versucht Jesus, sein „Sorge dich nicht, vertraue“ mit Geschichten, mit Taten und Worten den Menschen und besonders seinen Freund*innen nahe zu bringen: Sorgt euch nicht, vertraut. Das ist leicht gesagt, aber wie kann solch ein Vertrauen gelingen? Vertrauen Sie? Oder ist Ihnen der Satz, der dem Sozialisten Lenin zugeschrieben wird, näher: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“? Ein weit verbreiteter Satz, mit dem Menschen als zu gutgläubig belächelt werden. Es ist ein Leitsatz für das gesellschaftliche Zusammenleben wie für die Gestaltung des eigenen Lebens. Mit Kontrolle und Plänen versuchen wir, den Gefahren des Lebens zu begegnen, sie zu vermeiden oder wenigstens die negativen Auswirkungen zu minimieren.
Vertrauen dagegen fällt schwer. Vertrauen, das bedeutet, sich ohne hundertprozentige Gewissheit in den Moment fallen zu lassen wie in die offenen Arme einer Mutter, eines Vaters. In die Arme, die das Kind auffangen und sicher halten. Im besten Fall haben wir solche Momente, in denen wir uns ganz sicher, geborgen und getragen fühlen, schon selbst erlebt. Wenn wir uns erinnern, merken wir: Vertrauen könnte sich so gut anfühlen, doch Enttäuschungen und Niederlagen haben uns eines anderen belehrt. Wir sind vorsichtig geworden. Furcht und Sorge beherrschen uns mehr als Vertrauen.
Jesus dagegen setzt ganz auf Vertrauen. So auch in der heutigen Geschichte. Ganz erschöpft ist Jesus, nach einem langen Tag, an dem er den Menschen mit Worten und Gleichnissen seine Botschaft verkündet und erklärt hat. Nun will er am Abend ans andere Ufer. Abstand, Ruhe sucht er. So bittet er seine Begleiter*innen, das Boot vom Ufer loszumachen und auf den See hinauszufahren. Er begibt sich vom Festland aufs bewegte Wasser. Er legt sich auf ein Kissen und beginnt zu schlafen, mitten auf dem See – mehr „Vertrauen“ geht kaum. Der See Genezareth ist berüchtigt für einen rasch aufziehenden Sturm, der Boote zum Kentern bringt. Mitten auf dem bewegten Wasser schläft Jesus. Er kann das – vertrauen.
Seine Freund*innen sorgen dafür, dass die Boote ablegen und Kurs nehmen Richtung gegenüberliegendem Ufer. Als Fischer*innen haben sie die notwendigen Handgriffe von klein auf gelernt. Dann schauen sie auf den See Genezareth. Sie spüren, wie der Wind stärker wird. Mit dem Sturm wächst ihre Angst. Das Wasser dringt schon ins Boot. Der Sturm wird mächtig. Sie wissen, wie gefährlich die Situation werden könnte. Das halten sie nicht mehr aus. Sie fühlen sich allein mitten im Sturm, der ihr Leben bedroht. Währenddessen schläft Jesus. An wen sollen sie sich wenden? Sie wecken ihn, dem sie vertrauen, ihren Lehrmeister. Sie sind sich sicher, er kann helfen.
Was macht Jesus? Er steht auf, er stellt sich in den Sturm, gebietet dem Meer: „Schweig!“. Dann wendet er sich an seine Begleiter*innen: „Was seid ihr so furchtsam, habt ihr kein Vertrauen?“
Regt sich bei Ihnen jetzt Verwunderung oder gar Unmut? Die Jünger*innen hatten doch Vertrauen. In ihrer Not haben sie ihn geweckt und waren nun voll Ehrfurcht vor seiner Macht und seinen Fähigkeiten, Sturm und See zu bändigen. Doch genau das ist offenbar nicht Jesu Anliegen. Sein Satz zu den Freund*innen klingt unwirsch, als hätte er lieber noch geschlafen.
Es geht Jesus um ein anderes Vertrauen, um das Gegenteil von Sorge und Furcht. Vertrauen, das Angst und Sich-Sorgen zum Schweigen bringt, wie den Sturm auf dem See Genezareth. Jesus vertraut maßlos in das Leben. All die Geschichten, in denen Menschen geheilt aus der Begegnung mit Jesus gehen, bezeugen es: „Dein Glaube hat dir geholfen“. Ja sogar zu vermeintlich Toten sagt er: „Steh auf und geh“. Wer denkt, Jesus sei ein Zauberer, der Naturgesetze außer Kraft setzt, hört nicht auf Jesu Worte. Er sagt nicht: „Ich habe dir geholfen“, sondern „dein Glaube“ – dein Vertrauen. Vertrauen in das unwahrscheinliche und doch immer wieder bezeugte Geschenk des Lebens. Schon die hebräische Bibel erzählt diese ungeheuerlichen Geschichten, in denen das Wunder des Lebens stärker ist als die Sorge und das Verständnis der Menschen. Mose wird im Schilfmeer geborgen, das Volk durch das Meer hindurchgeführt, das Manna fällt vom Himmel. Zahlreich sind die Geschichten, in denen das Leben wider alle Sorge weitergeht.
Doch was bleibt davon? Der heutige Text trägt den Titel „Die Stillung des Sturmes“. Die Jünger*innen „fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: Wer ist der, dass ihm Wind und Meer gehorsam sind!“. Es ist zum Verzweifeln, wie mächtig die Furcht ist. Weder die Jünger*innen noch die Herausgeber der Bibel verstehen, was Jesus in diesem Ereignis vorlebt: nicht Gehorsam und Zauberglaube, sondern Vertrauen in das Leben. Vertrauen, das heißt sich in das Boot legen, das hinaus auf das Wasser fährt und auch im Sturm weiterschlafen. Vertrauen heißt, mitten im Sturm aufstehen, sich ihm entgegenstellen und ihn direkt ansprechen: „Schweig!“. Das ist Vertrauen – Selbst-Vertrauen. Das führt nicht immer zum Sieg. Das kann auch am Kreuz enden. Aber dieses Vertrauen führt zum Leben.
Vielleicht denken Sie, das mag ja damals so funktioniert haben. Für so eine begrenzte Geschichte auf einem See. Aber heute, wo Kriege, Korruption, Klimakatastrophen uns bedrohen, da müssen wir schon planen, aufrüsten, mit Strategien uns dem allen entgegenstellen.
Wie war es damals? Palästina oder Israel war ein besetztes und geknechtetes Land. Der See Genezareth war synonym für das Massaker, bei dem die Römer tausende Flüchtlinge aus Magdala auf dem See mit Feuer beschossen hatten, die elendiglich dabei umgekommen sind. Das jüdische Volk wurde von den Römern in die große Diaspora deportiert. Mit Naivität hätte Jesus keinen Menschen überzeugt. Mitten in dieser Katastrophe setzt er das Prinzip Vertrauen gegen das Prinzip Sorgen und Sicherheit. Das ist verstörender als die Bezwingung eines vorübergehenden Sturms.
Jetzt die Frage an uns: Wollen wir die Geschichte als Wetterphänomen erinnern oder lassen wir uns ins Vertrauen ziehen? Wie können wir dieses Vertrauen lernen und wagen? Es sind zwei Haltungen des Vertrauens: Zum einen sich mitten im Sturm niederlegen, sich tragen lassen und schlafen. Zum anderen aufstehen und sich dem Sturm entgegenstellen. Jede Haltung hat ihre Zeit. Jede dieser Haltungen braucht Übung. Die Übung des Niederlegens, des Sich-Auslieferns, der Ruhe und Stille. Probieren wir es aus. Halten wir einen Moment diese Stille aus. Spüren wir, wie uns die Kirchenbank, der Boden trägt? Spüren wir den Atem des Lebens? Spüren wir das Leben, das in uns pulsiert?
Das ist Vertrauen: Wir halten die Stille, die Ruhe, das Nichts-Tun aus. Mitten im Wirbel unserer Aufgaben, in der Fülle der Nachrichten und Informationen, in den vielen Möglichkeiten, sich zu sorgen. Sorgen um liebe Menschen, um die Gesundheit, die Zukunft. Die Stürme unserer Zeit sind mächtig. Die Stürme der Informationen werden umso mächtiger, je mehr Ängste sie schüren. Die Ängste werden selbst zu eigenmächtigen Stürmen, die krank machen. Viele von uns kennen diese Ängste, die uns nicht schlafen lassen, die unseren Blick auf die Schrecken bannen, dass wir uns ohnmächtig fühlen. Mittendrin halten wir inne, legen die Hände in den Schoß und schweigen. Manche nennen das Gebet. Wir wagen Vertrauen. Ob das hilft? Ich weiß es nicht, aber warum es nicht ausprobieren? Denn seien wir ehrlich, Furcht und Sorgen, Pläne und Kontrolle helfen eigentlich auch nicht. Not und Elend, Krieg und Gewalt bekommen wir nicht in den Griff.
Und dann gibt es die zweite Haltung des Vertrauens: Aufstehen, aufrecht, aufgerichtet zwischen Himmel und Erde. Auch diese Haltung müssen wir üben. Probieren wir es aus: Stehen Sie, wenn Sie mögen und können, auf. Spüren Sie den Boden unter den Füßen und strecken Sie den Scheitel in den Himmel. Aufrecht stehen wir in der Welt. Wir beziehen Stellung. Das ist Vertrauen: Ich stehe ein für meine Überzeugung. Ich stelle mich manchem Sturm entgegen. Ich sage „Schweig!“. Vertrauen ist ein Wagnis. Die besten Gesetze, die besten Strategien brauchen Menschen, die sich dafür einsetzen und sie gegen alle Widersacher des Lebens umsetzen. Wie fühlt es sich an, gerade und aufrecht zu stehen? Vielleicht ist es mühsam, ausgesetzt dem Wind oder den Blicken anderer. Oder es fühlt sich unerwartet beweglich und leicht an. Wir können uns umschauen, einander anschauen, wahrnehmen.
Hören wir auf den Satz, den Jesus uns zuspricht. „Was fürchtet ihr euch? Habt ihr noch kein Vertrauen?“ Jesu scheinbar so harscher Satz birgt ein Versprechen, einen Zuspruch. Er hat Vertrauen in seine Freund*innen. Das Wort „noch“ heißt, dass er fest mit dem Wachsen des Vertrauens rechnet. Er vertraut ihnen, dass sie es lernen werden. Vertrauen statt Kontrolle ist ein gutes pädagogisches Prinzip. Kindern mehr zutrauen, als sie jetzt schon können, das stärkt sie auf ungeahnte Weise. Vertrauen, das heißt, den anderen etwas zutrauen, zu ihnen hin trauen, mehr als jetzt für möglich gehalten wird. Darum ist Vertrauen das Gegenteil von Kontrolle. Kontrolle rechnet mit dem Versagen, rechnet mit dem Schlimmsten, nicht mit dem Guten. Die Geschichte braucht einen anderen Titel. Sie erzählt nicht von der Stillung des Sturms. Sie erzählt vom Vertrauen, das noch wächst. Stille mitten im Sturm, Hoffnung mitten in der Katastrophe, Frieden mitten im Krieg, Leben mitten im Tod. „Was fürchtet ihr euch? Habt ihr noch kein Vertrauen?“ Dann übt es, legt euch nieder und steht auf mitten im Sturm!
Eingangsgebet
Danke, Gott, dass ich hier bin, jetzt.
Was ich suche, weiß ich noch nicht.
Stille und Ankommen.
Neue Gedanken und Sichtweisen.
Eine Melodie, die mich trägt.
Einen Anstoß oder Widerspruch.
Etwas Neues, das sich entwickelt.
Was ich auch suche, hilf mir, es zu finden.
Bausteine für die Fürbitten:
Zwischenruf: NL 180 (Meine Hoffnung und meine Freude, auch zu finden: Lieder nach Taizé; oder: Durch Hohes und Tiefes 134; Lieder zwischen Himmel und Erde 99)
Im Vertrauen und in Zuversicht rufen wir zu dir, Gott:
Lass diejenigen zur Ruhe kommen, die im Sturm der Aufgaben und Forderungen stehen, die jeden Tag ihr Bestes und mehr geben und so dringend der Ruhe und des Schlafs bedürfen. Schenke ihnen den Schlaf, das Ausruhen, dass sie sich fallen lassen können, getragen werden und neue Kraft schöpfen.
Im Vertrauen und in Zuversicht rufen wir zu dir, Gott:
Steh denen bei, die sich dem Sturm entgegenstellen und ihm Einhalt gebieten, dem Sturm der Gewalt, des Hasses, der Ungerechtigkeit. Stärke ihren Rücken, ihre Weitsicht und Aufrichtigkeit. Schenke ihnen Menschen, die in Solidarität mit ihnen verbunden sind, dass sie nicht allein stehen.
Im Vertrauen und in Zuversicht rufen wir zu dir, Gott:
Sei bei den Hoffnungslosen und Verzweifelten und zeige ihnen die Pflanze der Hoffnung und des Muts, dass Veränderungen und unerwartetes Leben neu in ihnen keimen und wachsen können.
Psalmvorschlag: Psalm 107 II.
Evangelium: Markus 4,35–41
Lesung: Jesaja 51,9–16
Liedvorschläge:
334,1,2,5,6 (Danke für diesen guten Morgen)
316,4 (Lobe den Herren, der sichtbar dein Leben gesegnet)
629,1–3 (Regionalteil Württemberg/ Fürchte dich nicht, gefangen in deiner Angst; auch zu finden: Durch Hohes und Tiefes 321; Lieder zwischen Himmel und Erde 200; LebensWeisen 59) )
NL 213 (Wenn Glaube bei uns einzieht; in: Wo wir dich loben, wachsen Neue Lieder, München, Strube Verlag 2019)
395 (Vertraut den neuen Wegen)