Liebe Leserinnen und Leser der Pastoralblätter,
in diesem Mai jährt sich das Ende des zweiten Weltkrieges zum achtzigsten Mal.
Wir Deutschen blicken auf eine immer längere Zeit des Friedens zurück, so lange wie keine Generation vor uns jemals in diesem Land Frieden erleben durfte.
In diese lange Friedenszeit schleicht sich nun seit einigen Jahren ein fast tägliches Erschrecken: dass sie jäh enden könnte, dass der Krieg wieder nähergekommen ist. Auf unheimliche Weise näher. Ich blicke besorgt zu den Fotos meiner Kinder.
Und während ich im Dezember 2024 diese Zeilen zu Papier bringe, fliegen Drohnen und immer stärkere Raketen nicht nur über den „Nahen Osten“, sondern gerade einmal zweitausend Kilometer östlich von uns über Russland und die Ukraine. Die Politik ruft aus vollem Halse nach starker Verteidigung; es ist die Stunde der unberechenbaren Autokratinnen und Autokraten in Europa und in der Welt. Der Wind von Rechtsaußen nimmt überall Fahrt auf, auch in diesem Land. Hoffentlich wird er gerade gewählte Regierungen und unsere Demokratie nicht zu sehr beugen oder sie gar brechen. Allein die Möglichkeit dieser Vorstellung will mir Atem und Stimme rauben.
Vielleicht hat das Frühlingserwachen zwischenzeitlich die Gewaltbereitschaft mit sich genommen und der Frieden hält weltweiten Einzug. Ich hoffe es und bin doch skeptisch. Mein unruhiger Blick sucht einmal mehr die Bilder meiner Kinder.
So liegt etwas Bizarres über diesen ersten wärmeren Tagen: Alle Welt sehnt sich nach dem Frühling, während sie damit beschäftigt ist, sich für den Winter zu rüsten; die Schöpfung singt, doch viele Menschen frieren in der Seele und schweigen im Gebrüll der Zeit.
Mein kleiner Sohn hüpft in mein Arbeitszimmer. Er lacht.
Es ist noch nichts verloren.
Was ist jetzt an der Zeit?
Nicht allein ruhig, geradezu beunruhigend still ist es geworden um die besonnenen, gewinnenden Stimmen all jener, die ihre Arme und Gedanken nach wie vor geöffnet halten wollen für einen Neubeginn im Miteinander, für mehr Menschlichkeit und Menschenwürde, für einen Frieden, der es schafft, mehr zu sein als eine befristete Waffenruhe oder eine einseitige Kapitulation. Die paar Worte, die es zu Gedenktagen reflexhaft noch gibt, wirken seltsam kraftlos, wie in Schockstarre formuliert, sie fallen wie die Spreu früherer Herbste auf den Acker einer neuen, stolzen Zeit. Auch ein beredtes Schweigen legt dort keinen Samen, es verflattert ungehört im gewaltigen hatespeech, der die Ohren nach und nach stumpf und die Herzen hart macht.
Nicht alles ist Spreu. Wie klingt in dieser Zeit ein altes Lied wie dieses: Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?
Naiv, tröstlich, aus der Zeit gefallen, zeitlos?
Als Shalom Ben-Chorin 1942 diese Zeilen schrieb, saß er vor seinem Haus in Israel. Er betrachtete sich einen Mandelbaum in voller Frühlingsblüte. Um ihn herum tobte der Zweite Weltkrieg. Wenige Jahre zuvor war er, der einmal den Namen Fritz Rosenthal trug und in München geboren wurde, aus seiner Heimat geflohen vor den Nazis. Er gab sich in Israel den Namen Schalom Ben-Chorin: Friede, Freiheitssohn. Und mitten im Krieg schrieb er dann diese Zeilen. Seine Stimme, sein klingender Name, sein Gedicht wanderte noch viele Jahrzehnte um die Welt. – Wo finden sich Stimmen wie die seine in unseren Tagen, Stimmen, deren Namen allein mich schon in Schwingung versetzen, deren Mandelzweige auch in mir zu blühen beginnen, wo?
Und was haben wir selbst in unseren Kirchen in unruhiger Zeit zu sagen? Wie sprechen wir, beten wir, was verkündigen wir da? Was ist an der Zeit?
Schweigen bestimmt nicht, oder zumindest nicht dauerhaft. Schweigen ist nicht zu verwechseln mit Sprachlosigkeit. Wenn es uns die Sprache verschlägt, ist das ein passives Erleiden. Wenn wir schweigen, sind wir aktiv ruhig. Der Preisträger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2022, der Ukrainer Serhij Zhadan, schreibt im Nachwort seines aktuellen Gedichtbandes, dass er nach Ausbruch des jüngsten Krieges vier Monate die Sprache zum Schreiben verloren habe. Dann aber sei sie zu ihm zurückgekehrt, nur verändert, mutiger.
Also ist auch die Mutlosigkeit nicht dauerhaft an der Zeit, sondern die Rückkehr der Predigt, die nach Luther klar und mit Bonhoeffer ein mutiges Bekenntnis sein darf. Also eine Sprache, die noch oder wieder etwas wagt, die auf das einleitende „eigentlich“ verzichtet und auch auf all die ermüdend blassen Konjunktive, die dem „eigentlich“ so gerne folgen. Die Würde des Menschen ist mehr als ein Konjunktiv. Erst recht die Würde des Lebens vor Gott. Sie ist unantastbar.
Was sagen wir nun? Wie tragen wir Gottes Wort zu unruhigen Menschen, stumpfen Ohren, harten Herzen und in die Ermüdung des Friedens hinein? Was wagen wir noch?
Predigten, die sich ins Leben hineinwerfen, waren schon immer und bleiben für immer ein Wagnis, nicht nur in bedrohter Zeit. Bis heute weiß niemand vor dem Orgelnachspiel, ob die Predigt gelungen ist. Nur eines ist sicher: Worte, die etwas wagen, sind immer an der Zeit.
Darum: Bei aller Sorgfalt um sprach- und gendergerechtes Reden dürfen die Inhalte und Aussagen dahinter nicht blass und belanglos werden. Salonfähige, doch blutleere Richtigkeiten und ihre gebetsmühlenartige Wiederholung helfen niemandem weiter.
Auch Weltflucht nicht. Wir haben vom Auferstandenen ein Doppelgebot der Liebe mit ins Leben bekommen, das die Nächstenliebe nicht einfach vor der Haustür lassen kann und will oder sie auf Seelenpflege reduziert. Die Versuchung dazu ist gegenwärtig stark, weil wir immer noch gekränkt sind von den vielen Kirchenaustritten, immer noch schockiert von den Verbrechen im eigenen Laden: weil es im Grunde schon für drei Leben reicht, die eigenen Wunden zu lecken. Da ist die Sehnsucht nach Vergessen, nach Weltvergessenheit groß.
Christus erzählt bei Lukas das Gleichnis vom Feigenbaum (Lukas 13,6–9). Ein Mensch hatte in seinem Weinberg einen Feigenbaum; und als er kam und nachsehen wollte, ob der Früchte trug, fand er keine. Er ging zu seinem Gärtner und sprach: Jetzt komme ich schon drei Jahre und finde keine Früchte. Hau den Baum um. Aber der Gärtner in Christus antwortete ihm: Herr, lass ihn dieses Jahr noch stehen; ich will den Boden um ihn herum aufgraben und düngen. Vielleicht trägt er doch noch Früchte.
Schalom Ben-Chorin sitzt vor seinem Haus und betrachtet einen blühenden Mandelbaum, als die Welt ihm um die Ohren fliegt. Da greift er zum Stift.
Sie werden es spüren: Es geht auch in diesem Märzheft der Pastoralblätter sehr persönlich zu. Manchem Beitrag ist das Wagnis abzuspüren, wieder mehr Gesicht und Haltung zu zeigen und neue Worte zu finden, wo es die Sprache verschlagen hat und alte Redewendungen und Wortsicherheiten nicht mehr so einfach taugen wollen.
Den Mut zu einer veränderten Sprache in veränderter Zeit haben vor uns auch andere erlebt. Zwei von ihnen kommen in dieser Ausgabe zur Sprache: Ein Pfarrer, der im Eindruck der Unruhen nach dem ersten Weltkrieg den Gottesdienst und die Predigt zur ersten Nationalversammlung 1919 in Weimar halten durfte, und dann, dreißig Jahre später, die Open-Air-Predigt eines Jugendpfarrers inmitten des, von Fliegerangriffen Jahre zuvor völlig zerstörten, Witten vor unzähligen „Jungmännern“, dem damaligen CVJM.
Ob man die alten Predigten in ihren Inhalten teilen mag oder nicht, die Kraft der Sprache ist deutlich zu spüren, da wird etwas gewagt, da wird dem Wort Gottes eine sprachliche Tür geöffnet in die aktuelle Zeit und Unruhe hinein, da bekommt das geistliche Wort ein Gesicht und darum Gewicht.
Der einst blühende Mandelbaum vor dem Haus Ben-Chorins ist längst gefällt worden für einen Steinplattenweg durch den Garten. Aber, so schreibt der Dichter Jahre später, die Wurzeln des Mandelbaumes haben wieder ausgetrieben und neue Wege gefunden ans Licht. Ein neuer Mandelbaum blüht nun im Frühling irgendwo in Israel. Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?
Eine gesegnete Zeit auf Ihrem wagnisreichen Weg zum Frieden
wünscht Ihnen
Ihre Redaktion der Pastoralblätter
und Ihr Jochen Lenz, Schriftleiter