Vom Mann, der nicht tanzen kann

„Wie ein ungeschriebenes Gesetz steh ich stets am Rande des Parketts. (…) Ich bin ein Tänzer, das werden Sie noch sehn, den lässt jede Frau nach zehn Sekunden stehn. Denn ich bin der Mann, der nicht tanzen kann. Mach was dran, mach was dran.“ Hanns Dieter Hüsch, dessen 100. Geburtstag wir am 6. Mai erinnern, hat seine Festtage offenbar ohne größeren Tanzeifer begangen. Und schon in jüngeren Jahren dieses Lied als Begründung hinterlassen vom Mann, der nicht tanzen kann: „Wenn ich den ersten Schritt auf das Parkett tu, dann geht noch alles relativ nett zu. Aber beim dritten, vierten, fünften Schritt komm ich mit dem Rhythmus nicht mehr mit. (…) Drum sag ich Ihnen gleich, was mit mir los ist, damit hinterher Ihre Wut auch nicht so groß ist. Und bei der allernächsten Damenwahl verlasse ich fluchtartig das Lokal. Denn ich bin der Mann, bei dem nie was klappt, nie was klappt; Pech gehabt“ (nachzuhören auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=ncyzW3eBJCs ).

So sehe ich ihn stehen am Rande des Parketts, genau so, wie ihn meine Generation noch kennt: bereits in die Jahre gekommen, aber mit aufmerksamem Blick unter der hohen, gefurchten Stirn; die runde Brille von der Stange, Fusselvollbart, Genießerbäuchlein; und um seine Lippen spielt das vertraute, freundlich-hilflose Lächeln.
Dieses Bild in mir gewann er nicht durch weltbewegende Tänze auf dem Parkett, sondern durch den Tanz seiner Worte und Gesten übers Papier und über Bühnen, dieser liebenswerte und knorrige Sturkopf vom Niederrhein. Er wurde 80 Jahre alt und blieb ein Leben lang das, was er immer schon war: kein Tänzer, aber Schriftsteller, Kabarettist, Schauspieler, Synchronsprecher und sogar Rundfunkmoderator, vor allem: Mensch. Und mittendrin und drumherum war und blieb er auch noch ein Leben lang Christ und damit ein von Hoffnung Umhergetriebener. Also in Bewegung. Aus Leidenschaft. Aus Leidenschaft für die Menschen, die ihm begegneten und die er so liebevoll beschrieb, dass es ihnen irgendwann sogar gelang, über sich selbst zu lachen aus vollem Herzen und Halse.
Und aus Leidenschaft für die Hoffnung, die er weitertrug: dass diese Welt immer noch zu retten sei, mit Gottes Hilfe, mit dem segensreichen Wirken seines Sohnes, mit einer himmlischen Geistkraft, die Herzen und Köpfe einfach mal so freipustet und zur Menschlichkeit befreit. Und mit Humor.
An Hanns Dieter Hüsch ist ein guter Pfarrer verlorengegangen. Nein, ist er nicht, er war ja da, irgendwo am Niederrhein und hat da getextet und gedichtet und genörgelt und buchlange Bühnenprogramme gefüllt. Abende mit ihm taten meist das, was ein Gottesdienst ab und zu auch vermag: Seele und Herz himmelwärts aus- und aufrichten, zum Lachen über das wunderbare Leben verführen, das Gemüt mit Hoffnungswasser begießen; schließlich gesegnet-getröstet nach Hause gehen im festen Glauben: „Wir sehn uns wieder.“ Und das alles begleitet von seiner unfassbaren, alten Philicorda-Orgel, die, wie ein Nachruf in der ZEIT es einmal festhielt, so zart nach vertonten Bratkartoffeln klang.

Genau diesem Menschen und Mann, der nicht tanzen konnte, gehört heute der Auftakt zu dieser Ausgabe der Pastoralblätter, die sich ausgerechnet mit der Zeit zum Tanzen beschäftigt im fortlaufenden Jahresthema und auch im Mai mit der Ahnung, dass alles seine Zeit hat. Alles? Auch das Tanzen? Hanns Dieter Hüsch konnte nicht tanzen. Das heißt aber nicht, dass er das Tanzen hasste wie manch andere seines Geschlechts; und noch weniger heißt es, dass er sich im Tanz des Lebens nicht ausgekannt hätte. Hüsch liebte das Tanzen. An allen Ecken. Er übte sogar heimlich zuhause vor dem Spiegel und mit dem uralten Grammophon, wie er uns in seinem Lied weiter verrät. Doch „sofort verlier ich die Balance, wenn eine Dame vor mir steht.“ Mach was dran, mach was dran.
Es sind kurze launige Textzeilen wie diese, mit denen H.D. Hüsch mal eben ganze Bilderwelten in seinen Zuhörerinnen und Zuhörern öffnet. In mir weiten diese paar Worte jedenfalls die Erinnerung an den Tag meines Abschlussballes: mein persönliches Waterloo. Die 8. Schulklasse hatte sich gemeinsam zum Tanzkurs angemeldet und war irgendwann bereit, das Erlernte auf dem Parkett vorzutragen. Ich steckte zu jenem Abschlussballabend aufgeregt und eingezwängt im Anzug und in den Lederschuhen der gerade zurückliegenden Konfirmation. Die Schuhe drückten bereits beim Einzug in den Tanzsaal so sehr wie die prüfenden Blicke der Eltern, die, angeordnet an hübschen kleinen Tischen, rings um die Tanzfläche herumsaßen. Meine Hände waren schon seit dem Mittag kalt und schweißnass.
Meine bezaubernde Tanzpartnerin an diesem Abend trug den schönen Namen Graziella. Jede Silbe ein Gesang. Dazu trug diese Grazie feine Absätze und ein Cinderella-Kleid und umwehte sich und mich mit einem Parfum, das mir schon vor dem ersten Tanz eine veritable Hinfälligkeit verlieh. Ihre Hände zogen und schoben mich nun mit Freude durch den großen Saal. Sie zählte auf Italienisch die Schritte mit. Das Drücken der Schuhe war vergessen. Die Hände wärmten sich. Die Welt um mich verschwand.

Der Moment meines Niedergangs setzte abrupt ein mit dem Dreivierteltakt eines Wiener Walzers. Ich leistete der Aufforderung des Tanzlehrers, bei diesem Tanz so richtig und mit Schwung den ganzen Saal auszumessen, Gehorsam und verschwand unversehens und kommentarlos, in den Lederschuhen komplett nach vorne wegrutschend, unter dem Kleid meiner Tanzpartnerin und mit ihr unter dem Tisch ihrer Eltern. Die Aufmerksamkeit des Saales war mir ebenso gewiss wie der lebenslange Spott meiner Klassenkameraden; das gehüstelte Lachen von Graziella auch. Ich war bereit zu sterben. Graziella dagegen strich über ihr Kleid, legte die Haarsträhne wieder hinters Ohr und half mir mit beherzten Händen auf die Füße, in den Tanz und ins Leben zurück. Dafür war ich ihr unendlich dankbar. Am Ende des Abends verließ ich sie mit hochrotem Gesicht und drohte meinem Vater auf der Heimfahrt von der Rückbank die ewige Aufkündigung der Freundschaft an, sollte er auf die Idee kommen, auch nur einen winzigen Kommentar zu flüstern. Nie werde ich den Anblick seines Lächelns und seiner zusammengepressten Lippen im Rückspiegel vergessen. Aus seinen Augen liefen Tränen. Meine Mutter erging sich noch ein wenig über die Tücken von Lederschuhen auf dem Parkett und wurde den Rest der Fahrt von Lachkrämpfen geschüttelt.
Danke, Hanns Dieter Hüsch, für diese Erinnerung.
Nun geht es mir aber wie dem freundlichen Mann vom Niederrhein: Im Grunde liebe ich ja das Tanzen, wenn auch mit gebotener Vorsicht und in bequemen Schuhen. Und ich freue mich sehr an dem Tanz anderer und auch an den wirklich bewegenden Beiträgen über die Tänze des Lebens in diesem Heft. Ich denke sehr gerne an die beherzten Hände, die mir damals wieder auf die Beine und in den Lebenstanz zurückgeholfen haben und begleite Hanns Dieter Hüsch nun gerne aus dem Saal und in seine humorigen Lebensbetrachtungen hinaus.

In vielen seiner Texte beschreibt er einfach nur Menschen wie dich und mich. Menschen, die im Tanz des Lebens immer wieder einmal fallen und sich die Hände reichen. Er tut das so liebevoll, dass sie über sich selbst lachen können, wenn er ihnen davon erzählt. Und lässt dabei durchblicken, dass solche Menschen ihm zwar irgendwo und irgendwann ganz beiläufige Begleiterinnen und Begleiter oder vorübereilende Begegnungen waren, aber genau darin so wichtig wurden für sein Leben und Werden und Lieben und Lachen. Sie sind seine Inspiration, der Grund seines Wirkens, seine Liebe und Hoffnung, die er in den Himmel schreibt.
Darum hinterlässt er uns Bücher mit Titeln wie „Du kommst auch drin vor“ und erzählt darin berührend von einigen Randfiguren des Lebens, von für den Weltenlauf im Grunde unwichtigen, aber ungemein witzigen, hoffnungsvollen und immer menschlichen Menschen. Etwa von Hedwig, seinem zeitweiligen Kindermädchen. Hedwig schob ihn im Kinderwagen durch die Welt, denn seine Beine lagen aufgrund eines Handicaps lange Zeit im Gips. Und „Hedwig hatte ein Kopftuch auf und lachte mit ihrem traurigen Mund. Und dann wurde ihr Kopf kugelrund.“ Und wenn sie lachte, dann lachte er mit, und wenn er weinte, dann weinte sie auch. Und fand mit ihr gemeinsam zu dem Refrain dieser Zeit: „Hedwig, Hedwig, wo fährst du mich hin? - Zu den Schwänen wohl auf dem Teich. Und die Schwäne kamen im Fluge herbei und waren so stolz und so bleich. Und wir fütterten sie und wir freuten uns, vergaßen Welt und Gebrechen. Hedpich, Hedpich juchzte ich dann, denn ich konnte des W noch nicht sprechen.“

Zum Tanzen ist es immer schön, ein Gegenüber zu haben. Eines, das mich an den Händen hält, mit mir Kreise zieht durch den Saal und mich sanft und melodisch ein wenig durchs Leben führt. Wie im Leben eben. Nicht immer sind unsere Gegenüber dabei die, an die wir sofort denken.
Oft genug sind es jene Randfiguren unseres Lebens wie Hedwig: Menschen, mit denen wir nur wenig bis gar nichts zu tun haben, die uns aber in einem wichtigen Moment in den Blick und ins Herz fallen. Oder die uns in einem Augenblick die Hände reichen, nur kurz, einen Moment lang, allerdings einen unvergessenen Moment. Menschen des Vertrauens für einen bestimmten Moment sind das.
Ich denke an den alten Saxophonspieler an einer Straßenecke in Prag. Sein Blick, sein Spiel, dieser Moment öffneten mir in einem einzigen Augenblick das Herz und die ganze Stadt, und das alles, während ich vorüberging. Ich denke auch an die alte Wirtin aus der Kneipe gegenüber unserer Kirche. Als wir einmal unseren Gemeindesaal umbauten und nicht wussten, wohin mit den Veranstaltungen, stand sie eines Tages in der Tür und sagte: „Ich hab gehört, ihr sucht einen Raum. Kommt zu mir in die Gaststätte.“ Im Gottesdienst habe ich sie nie gesehen, auch hinterher nicht. Wir gingen zu ihr. Da war sie. Sie stand hinter dem Tresen und lächelte uns zu.
Es gibt sie einfach überall, diese Vertrauenspersonen. In England hat sich die Fresh-x-Bewegung in der Kirche schon vor vielen Jahren mit solch freundlichen Begleiterinnen und Begleitern beschäftigt und nennt sie person of trust, Mensch des Vertrauens. Seitdem sie im Blick kirchlicher Arbeit sind, gibt es dort Pubchurches, Gottesdienste mit Film im Kino, kirchliche Kindernachmittage auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt. Weil es einfach viele Menschen des Vertrauens gibt. Dort. Hier auch.
Erst recht in der Bibel. Jesus schickt seine Jünger voraus: Geht in die Stadt zu einem bestimmten Menschen und sagt ihm: Der Herr möchte das Passafest bei dir feiern. (Matthäus 26,18) Wir erfahren nie den Namen dieses bestimmten Menschen. Aber er war da, einen wichtigen Moment lang bot er sich an. Eine Randfigur. Aber ein wichtiger Mensch des Vertrauens in diesem Moment.
Ungezählt und namenlos die meist ungenannten, nur beiläufig erwähnten oder einfach nur vorhandenen Menschen des Vertrauens, bei denen Jesus mit seinen Jüngern schon zu Gast war, bei denen Propheten einst Unterschlupf fanden bis hin zu jenen, die andere auf Hausdächer hinauftrugen, um sie durch ein gegrabenes Loch von oben Jesus zu Füßen und ans Herz zu legen. Ungezählte Menschen des Vertrauens leben um uns. Menschen, über die so gut wie nie gepredigt wird und über die Hanns Dieter Hüsch deshalb seine Texte schrieb. Unscheinbare Vertrauenspersonen, die es einfach überall gibt. Menschen, die nicht nur im Tanzsaal nach unserer Hand greifen und uns mitnehmen in einen unvergessenen Moment hinein. Die sich auch sonst anbieten und einfach da sind, wenn es wichtig ist.
Was für ein Trost, was für eine Hoffnung ist das bei allem derzeitigen Starren auf die Zahlen von Kirchenmitgliedschaften und die nachlassenden Kräfte im Haupt- und Ehrenamt, dass Gott sich an keine Mitgliederlisten hält und wie sehr er uns Menschen doch miteinander beschenkt und überrascht. Und auch mit einem Menschen wie Hanns Dieter Hüsch, der immer noch viel zu sagen hat und mich immer noch von einem Moment zum anderen zum Weinen und Seelentanzen bringt mit seinem Hedpich, Hedpich-Ruf.

Wir wünschen Ihnen viele gute Begegnungen in diesem Mai,
in diesem Heft und draußen, wenn die Menschen des Vertrauens
Ihnen vor die Füße laufen oder auch mal fallen und sich Hände zum Leben finden.
Einen Moment lang.
Einen hoffnungsfrohen Lebenstanz mit guten Haltungsnoten
wünschen Ihnen Ihre
Redaktion der Pastoralblätter
und Ihr Jochen Lenz (Schriftleitung)

Und wenn Sie einmal sehen wollen, welche Gesichter sich eigentlich hinter der Pastoralblätter-Redaktion verbergen, besuchen Sie uns doch am Herder-Verlagsstand auf dem Kirchentag in Hannover. Am Freitag, den 2.5.2025 finden Sie uns dort von 14.00 Uhr bis 16.00 Uhr zum Austausch und zur Begegnung. Wir freuen uns auf Sie!

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