Liebe Leserinnen und Leser der Pastoralblätter, die Sonne fällt durch ein Fenster in mein Arbeitszimmer und wirft ihr Licht auf kleine Stapel weißer Papiere.
Die sind über den Fußboden verteilt und dort angeordnet wie eine Landkarte der Bundesrepublik. Aus gutem Grund: es sind die über viele Jahre gesammelten Lieder mit besonderen deutschsprachigen Texten aus allen Teilen dieses Landes, auch aus Österreich und der Schweiz, aus älterer und jüngerer Zeit.
Bald findet es nämlich wieder statt, das Treffen mit den „Jungs“, mit denen ich damals erste Lieder spielte: eigener Kram über den Schulalltag, vor allem Coversongs. Auf gute Texte haben wir aber immer geachtet. Und nun kommen sie bald wieder, die Jungs meiner damaligen Schulband. Und wir verbinden das jährliche Treffen nicht nur mit der üblichen Probe und einem Kasten Bier in einem alten Kellerraum, sondern in diesem Jahr auch mit einem Konzert in einer Scheune. So wie damals in der ersten Hälfte der 80er unser erster aufregender Auftritt in einer Scheune stattfand. Mit 15, Pickeln und schweißnassen Händen. Mit dem Glück des Moments und mit dem unzerstörbaren Traum von einem künftigen Leben als Rockstar auf einer Welttournee in den verspulten Köpfen und verwirrten Herzen.
In diesem Jahr wollen wir also die Handvoll Gäste und Freunde, die sich in die Scheune verirren werden, mitnehmen auf eine Liederreise. Durchs Leben. Unplugged. Mit Bier und Wein, mit ordentlich Käse und vielen Pausen. Und mit Erinnerungen, die mittlerweile so groß sind wie die Träume damals mit 15.
Die wandernde Sonne zeigt jetzt auf ein Lied von Hildegard Knef, das in die nähere Auswahl für den Scheunenabend rückt. Das Lied kommt aus Berlin und aus dem Jahr 1970. Es trägt den Titel: Wie viele Menschen waren glücklich, dass du gelebt?
Eine starke Frage. Ich lasse mich fallen in den rauchigen Erzählgesang der Knef: „Vielleicht fragt dich eines Tages jemand, der noch unbestechlich ist: Wie viele Menschen waren glücklich, dass du gelebt? Du begleitest die Spiralen der Erinnerung, durch Verzweiflung und durch Freude. Und die Trauer macht dich stumm. Weil du’s nicht weißt. / Und nur zögernd wirst du sagen, dass zu vieles tost dagegen auf den Wegen deiner Wanderung, dass du’s leider nicht mehr weißt. /
Und die Frage wird dir folgen. Durch Spiralen der Erinnerung siehst du Tränen auf Gesichtern; auf Gesichtern, die du liebtest. Und du weißt nicht mehr, warum es so war. / Die Sekunden deiner Wahrheit liegen milchig überm Brachland der Erinnerung. Und dein Lächeln bleibt erfroren, und die Antwort bleibst du schuldig; und die Fackel deines Ichs verlöscht im Wind. / Deine Worte: lose Steine in der Brücke, die nichts findet; stürzt zusammen ohne Laut. Und die Frage: Wer war glücklich, dass du lebtest, dringt durch Schleifen der Erinnerung.“
Das Lied öffnet eine Tür zur Erinnerung, wenigstens einen Spalt weit. Zu Beziehungen. Nicht allein die Liebesbeziehungen, an die ich zuerst denken muss: Wie geht es eigentlich …? Lebt sie noch im Osten? Sie ist jetzt mit einem Uhrmacher verheiratet. Eine schöne Vorstellung. Sie lehrte mich, im Wind, der durch ein junges dichtes Feld fährt, Heere vorbeiziehender Zwerge zu sehen. Irgendjemand erzählte neulich, sie sei wieder krank. Oh weh. Soll ich ihr nach all den Jahren schreiben? Aber warum? Und wie geht das ohne Worte und Adresse?
Die Tür knarzt, da will noch mehr Beziehung durch. Alte Freundschaften, familiäre Bande, berufliche Nähe, und viel zu schnell will mir als Antwort auf die Knef-Frage zwei Worte über die Lippen: „Meine Kinder“. Es wird mehr ein Flüstern. Meine beiden Söhne, hab ich es geschafft, dass sie glücklich mit mir waren und sind? Da blieb und bleibt noch viel zu vieles liegen. Ich möchte auf die Frage nach dem Glück lieber schweigen wie das Du im Lied. Und dann ist da ja auch noch das Kind, das ich selbst mal war. Bin ich ihm gerecht geworden im Laufe des Lebens? Wäre es glücklich, wenn es sieht, was aus mir geworden ist, fernab der Weltbühnen? Auf irgendeiner Hauswand in irgendeiner Großstadt stand einmal geschrieben: Kinder sind der Anfang einer Beziehung, nicht ihr Ende. Die Kindheit spricht ins Leben, prägt und verwandelt Beziehungen, lässt die Wunder reifen. Ein Leben lang.
Ich muss heute an diesen besonderen Moment der Kindheit denken: Der erste Auftritt als Band. In der Scheune. Wir fühlten uns cool und alt und waren noch Kinder, die zur Konfirmation eine E-Gitarre bekommen hatten. Auf dem Gitarrenhals klebten rote und gelbe Punkte, um die Griffe richtig zu greifen. Aber ein Universum größer als alle Aufregung und kindliche Unbeholfenheit waren die Träume in unseren Kindsköpfen: Alles war möglich, die Zukunft, das ganze Leben lag offen wie weites Land. Wir sahen uns schon im Riesentruck durch Amerika fahren auf einer Welttournee, die mit diesem Konzert damals unweigerlich seinen Anfang nehmen musste. Wir nannten uns „T-Bone“, damit wir auch in fernen Ländern verstanden würden. Wir glaubten alles, hofften alles, liebten vieles, versanken im Moment, in den Texten und Songs, waren glücklich, wie glücklich nur geht. 37 Menschen kamen zum Konzert in die Scheune, darunter Schulfreunde, Eltern, sarkastische Geschwister, ein unermüdlicher Lehrer. Nach jedem Lied wurde exakt 4 Sekunden applaudiert. Wir waren grottenschlecht. Die Verstärker fiepten, die Aufkleber halfen nicht. Wir vergriffen uns ständig, vergaßen alle Texte, irgendjemand spielte am Ende des Liedes weiter, oder der Schlagzeuger verlor beim Einzählen die Trommelstöcke. Die Menschen blieben freundlich. Wir fanden uns toll, waren unendlich glücklich und vergaßen diesen Auftritt nie. Vier Mädchen aus unserer Klasse überreichten uns danach noch eine gelbe Rose. Ich rieche heute noch den Spearmint-Kaugummi hinter dem Lächeln und spüre sie, die Umrandung einer dicken Hornbrille, als mir eine von ihnen die Blume überreichte und mich freundschaftlich auf die Wange küsste. Wie hieß sie noch gleich? Und was macht sie heute eigentlich?
Beziehungen wachsen aus Kindergeschichten. Lehrt die Hauswand in der Großstadt. Und die prägen das ganze Leben. Und die Beziehungen.
Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn ihrer ist das Himmelreich.
Ja, so fühlte sich das an als Kind: Der Himmel, die Welt, die Hoffnung, die Liebe, das Glauben an etwas Großes; Gott unmittelbar bei mir, um mich, über mir.
Gott segne alle Kinder, die jetzt in diesen Wochen zur Taufe kommen und getragen werden mit genau dieser fröhlichen Erwartung des Wunders, des Glücksmoments, der sie ins Leben begleiten mag. Ich erinnere mich noch gut an diese kindliche Erwartung und frage mich heute: Wenn alte Menschen wieder zu Kindern werden, wächst in ihnen dann auch wieder der Himmel, die Welt, die Hoffnung, die Liebe, das Wunder? Hoffentlich.
So könnte die Frage bei einer Tauffeier nicht nur sein, was gibt Gott oder was geben wir unseren Kindern mit ins Leben an guter Beziehung, sondern umgekehrt: Was geben uns die Kinder mit ins ganze Leben? Was lehren uns die Kinder über das Staunen, Wundern, Hoffen, über das grenzenlose Vertrauen, über das Miteinander? Darin sind sie Profis. Wer, wenn nicht sie lehren uns noch, alles zu glauben, auf alles zu hoffen, das Unmögliche zu erwarten? Diese kleinen Boten einer frühen Zeit und einer großen Botschaft, die unsere Beziehungen formen, prägen, verändern. Ein Leben lang.
Um solcherlei und andere Beziehungen geht es an verschiedenen Stellen in dieser frühsommerlichen Ausgabe der Pastoralblätter. Da lässt sich die Frage der Knef gut mit hineinnehmen: Wie viele Menschen waren glücklich, dass du gelebt?
Hoffentlich wenigstens die Kinder.
Bestimmt die Kinder.
Wir wünschen Ihnen himmelweite Einsichten und Türspalte voller Erinnerung auf der Suche nach Glück. Und gute Musik auf diesem Weg.
Ihre Redaktion der Pastoralblätter
und Ihr Jochen Lenz (Schriftleitung)