Was ist Religion?
Der Begriff der Religion umfasst alle Vorstellungen und Handlungen, welche das eigene Leben und die gesamte Welt in einen Horizont einordnen, der über die rein materiellen, naturwissenschaftlich-fassbaren Gegebenheiten hinausweist. Religion ordnet dem unmittelbar erfahrbaren Diesseits ein ihm vorausliegendes und auf es hinzielendes Jenseits zu. Religion befasst sich daher auch in ihrer institutionalisierten, kollektiv praktizierten Form im eigentlichen Sinne mit der eigenen Her- und Zukunft im Hinblick auf das persönliche Heil.
Dieser allgemeine Annäherungsversuch an den Religions-Begriff kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sich einer eindeutigen, alle ihre Erscheinungsformen umfassenden Definition entzieht. Auch die Bedeutung des lateinischen religio, wovon das deutsche Wort Religion abstammt, ist nicht zweifelsfrei geklärt. Es wird einerseits auf relegere (wieder lesen, genau beachten), andererseits auf religare (rückbinden) zurückgeführt. Versteht man jedoch relegere mehr als auf den religiösen Vollzug und religare mehr als auf die Funktion der Religion abzielend, muss zwischen beiden Herleitungen kein Widerspruch bestehen.
Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Religionen lassen sich beispielsweise unter den sogenannten Offenbarungsreligionen Judentum, Christentum und Islam feststellen. Sie werden dieser Kategorie zugeordnet, weil sie ihr Selbstverständnis aus schriftlichen Offenbarungsquellen beziehen. Zudem verstehen sich diese drei Weltreligionen – diese Bezeichnung verweist auf ihre Verbreitung –, im Unterschied etwa zum Hinduismus, als monotheistische Religionen. In allen drei Religionen steht der Glaube an einen (mono) einzigen Gott (theos) im Zentrum, – wobei dem Christentum mit seiner Trinitätslehre hierbei (aus Sicht der anderen beiden Religionen) noch einmal eine Sonderrolle zukommt.
Aus dem Neuen Theologischen Wörterbuch von Herbert Vorgrimler:
Religion (lat., sprachliche Bedeutung nicht geklärt, im Altertum von »relegere « = sorgfältig wahrnehmen, oder »religare« = zurückbinden, abgeleitet), ein für Interpretationen offener, nicht festgelegter Begriff, oft als »Umgang mit dem Heiligen« definiert, wobei »Umgang« eine große Bedeutungsbreite haben und theoretische, ästhetische und ethische religiöse Akte umfassen kann. Bei lateinischen Kirchenvätern wurde »religio« (z. B. bei Cicero †43 v.Chr.) im Sinn von Gottesverehrung übernommen und als weisheitliche Lebensgestaltung vor Gott verstanden. Nach Thomas von Aquin († 1274) hat Religion die Aufgabe, die Hinordnung des Menschen auf Gott zu tragen; für ihn sind alle, die nach dem »Gott« genannten Grund und Ziel der Welt fragen, »religiös«.
Bis zur Neuzeit wurde Religion mit dem christlichen Glauben identifiziert. Die Beschäftigung mit Religionen orientierte sich an der Unterscheidung der wahren Religion von den falschen Religionen. Nach ersten Ansätzen (z. B. bei Nikolaus von Kues †1464) begann erst im Zusammenhang mit der Aufklärung eine reflektierende Beschäftigung mit der Vielfalt der Religionen. Sie alle wurden von der Vernunft als Bewertungsmaßstab her beurteilt, so daß der Oberbegriff der »natürlichen Religion« entstehen konnte. Parallel dazu entstand eine Religionskritik, die z.T. die »unvernünftigen Elemente« einer Religion aufzudecken suchte, z.T. im Namen der Vernunft Religion überhaupt bekämpfte; an deren Stelle sollten moralische und künstlerische Anstrengungen treten. In konstruktiver Reaktion darauf entstand die bis zur Gegenwart wirksame Tendenz, Religion als ursprüngliche, alle menschlichen Vollzüge umfassende Sinndeutung zu verstehen. In der Apologetik und späteren Fundamentaltheologie existierte das Bemühen fort, Besonderheit und Überlegenheit des Christentums als Religion zu begründen.
Im 20. Jh. äußerte sich dies von den Gedanken her, daß Gott selber sich zur Menschheit in Selbstmitteilung verhält, wobei er die Bedingungen des Hörenkönnens auf sein Wort selber schafft und seine Selbstmitteilung geschichtlich unwiderruflich und endgültig in Jesus zur Erscheinung gebracht hat. Aufgrund dieser Inhalte wird ein wesentlicher Unterschied des Christentums von anderen Religionen ausgemacht, der dazu berechtige, nur das Christentum als legitime Religion zu verstehen.
Solchen in der katholischen und evangelischen Theologie (bis heute) vertretenen Tendenzen gegenüber trat eine evangelische Religionskritik »von innen« entgegen. K. Barth († 1968) verstand die christliche Offenbarung als Gericht über alle Religionen, die er als gottfeindliche Konstrukte des Menschen ansah, der sich gegenüber Gott selber rechtfertigen und behaupten wolle. Von D. Bonhoeffer († 1945) her zeigte sich das Bestreben, die Religion des Theismus als Inanspruchnahme Gottes zur Erklärung der Welt, als Behauptung eines aktiven Weltregiments Gottes (in Vorsehung) und als ideologische Stütze bestehender Verhältnisse abzulehnen. Statt dessen wird ein »reiner«, oft liturgie- und gebetsloser Glaube und vor allem der Weltdienst eines »religionslosen Christentums« in Solidarität mit allen Leidenden und Benachteiligten gefordert. In der theologischen Auseinandersetzung mit diesen Tendenzen wurde ihnen die Anstrengung zur »Bewahrheitung« des Glaubens in der Praxis nicht vorgeworfen, aber darauf hingewiesen, daß sie sich nur der Tradition einer institutionellen Religion verdanken, sich unvermeidlich gesellschaftlich artikulieren müssen und damit selber wieder Religionsgemeinschaft werden wollen.
Auch nach dem Entstehen wissenschaftlicher Disziplinen, die sich einzelnen Religionen und religiösen Phänomenen zuwenden, verstummt bis zur Gegenwart die Frage nach den Gemeinsamkeiten in allen Religionen nicht. Werden sie im »Umgang mit dem Heiligen« gesehen, dann können sie alle Spielarten religiöser Erfahrung umfassen, alle Philosophien, die »das Göttliche« nicht zu thematisieren wagen, alle Deutungen des Heiligen als des personalen Gottes wie auch alle nicht-personalen Auffassungen des Heiligen. Die Praxis der Religion vor allem in Gestalt der Mystik hat eine nicht hinterfragbare Selbstevidenz. Das II. Vaticanum sah die Gemeinsamkeiten darin, daß die Religionen Antworten »auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins« und auf die »Unruhe des menschlichen Herzens« suchen (NA 1 f.), und daß in ihnen »eine gewisse Wahrnehmung jener verborgenen Macht, die dem Lauf der Welt und den Ereignissen des menschlichen Lebens gegenwärtig ist«, gegeben sei (NA 2). Wenn auch frühere Polarisierungen gegen »falsche Religionen« hinter dem Bekenntnis zum universalen Heilswillen Gottes und zu den Heilsmöglichkeiten außerhalb des kirchlichen Christentums zurückgetreten sind, so ist doch die theologische Frage noch offen, ob die Nichtchristlichen Religionen als legitime, d. h. von Gott selber gewollte Heilswege angesehen werden können (vgl. auch Absolutheit des Christentums, Anonymes Christsein).
Das Entstehen einer weltanschaulich plural differenzierten Gesellschaft hat die gesellschaftlichen Stützen von Religion abgeschwächt und die Religion so stark in den Sektor des Privaten abgedrängt, daß heute auch nach der Wahrheit einer Religion eher individuell-privat gefragt wird. Zu Beginn des 21. Jh. wird konstatiert, dass sich zunehmend mehr Menschen religiösen Ausdrucksformen zuwenden. Die Äußerungen sind diffus und widersprüchlich. Der Massenzustrom vor allem Jugendlicher lässt keinerlei Schlüsse auf eine fundierte Zustimmung zu religiösen Glaubensinhalten oder zur Institution Kirche zu (auch beim vergleichbaren Zustrom zu Musikstars steht der Kontakt mit ihresgleichen an erster Stelle des jugendlichen Interesses).
Der Einfluß des Islam besonders in außereuropäischen Gesellschaften kann nicht übersehen werden; der Glaube dient dort häufig als Vehikel zur Bekämpfung sozialer Ungerechtigkeiten. Die lautstarken Wortmeldungen evangelikaler christlicher Gruppen bezeugen eine Zunahme des religiösen Fundamentalismus.
Quelle: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder
Religion drängt nach Vergemeinschaftung
Religiöse Vorstellungen prägen die tiefsten Grundüberzeugungen des Menschen. Dies macht die Religion zu einer der einflussreichsten Größen in der Gesellschaft. Einem reflektierten und verantwortlichen Umgang mit dieser Kraft verschreibt sich die mit den Mitteln der Vernunft agierende Theologie.
Das Christentum ist keine auf reine Innerlichkeit abzielende Religion, sondern drängt nach Vergemeinschaftung mit Angehörigen desselben Glaubens. Dies macht eine nachvollziehbare Verständigung über die eigenen Glaubenserfahrungen und die aus ihnen gewonnenen Glaubensgrundlagen erforderlich. Im Austausch über die als relevant erachteten Offenbarungserfahrungen, wie sie auch die in der Kirche als verbindlich geltenden Offenbarungszeugnisse dokumentieren, ereignet sich Theologie.