Adressat des Evangeliums Jesu ist der arme Mensch (Mt 11, 5), der sich in einer Situation des Elends vorfindet, die keine hoffnungsvollen Perspektiven bietet, und sich auch einer Situation der Schuld vor Gott bewusst ist, so dass er von ihm Ablehnung und Unheil erwarten müsste. Ihm sagt die gute Kunde an, dass ihm die liebende und vergebende Zuwendung Gottes gilt, dass die Herrschaft Gottes ihm die endgültige Befreiung und Rettung verheißt, so dass Grund zur Hoffnung ist, und dass Gottes Herrschaft in dieser Welt bereits wirksam geworden ist (Mk 1, 14 f.) und sie zur Vollendung führen wird. Diese Inhalte werden in den einzelnen Schriften des NT unterschiedlich akzentuiert (ein bedeutender Begriff ist Evangelium bei Paulus).
Der Begriff Evangelium wird sodann ausgedehnt auf dasjenige, was Augen- und Ohrenzeugen von Jesus selber wahrgenommen haben. Die Existenz, die Rede und das Leben Jesu werden so zu einem Inhalt des Evangeliums (aber nicht zu einer Biographie im modernen Sinn).
Mit Evangelium in der Einzahl wird in der kirchlichen Sprache bis heute die ganze Verkündigung des Wortes Gottes bezeichnet (Predigt, Unterricht, Lehre, „Evangelisation“ und Mission, praktisches Zeugnis des Lebens). Bei der Verkündigung des ganzen Wortes Gottes (nicht nur des Evangelium aus dem NT) wird Gott der Gemeinde gegenwärtig, ereignet sich reale Gegenwart Jesu Christi (II. Vaticanum SC 7). Nach einer früh bezeugten Glaubensüberzeugung bewirken Verkünden und Annahme des Evangelium die Vergebung der Sünden. Daraus müsste sich eine „Aufwertung“ des Wortgottesdienstes in der katholischen Kirche ergeben. Die erstrangige Aufgabe des kirchlichen Amtes in allen drei Weihestufen ist die Verkündigung des Evangelium (II. Vaticanum LG 28).
Die Evangelien als Schriften
In der frühen Kirche entstand eine Vielzahl von Evangelien, aber allgemeine Anerkennung erlangten nur vier (diejenigen nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes), die als anerkannte zuerst im »Kanon Muratori« (um 200) bezeugt sind. Sie verbinden biographische Absichten im Sinn antiker (nicht moderner!) Biographien mit dem Glaubenszeugnis und mit genaueren, von aktuellen Fragen bedingten Glaubensinterpretationen. Auf der Basis älterer Traditionsstücke formen sie die Reden und die Praxis Jesu in mannigfaltiger literarischer Gestaltung. Die heutige, schon um 200 vorkommende Reihenfolge besagt nichts über die Entstehungszeit; sie ergab sich aus der Häufigkeit der liturgischen Verwendung. Wegen der zeitgeschichtlichen Umstände, die sich aus den Evangelien erschließen lassen, und wegen des theologischen Reflexionsstandes wird (gegen den Widerstand des wissenschaftsfeindlichen Fundamentalismus) heute im allgemeinen bei Mk etwa das Jahr 70, bei Mt und Lk etwa 80 und für Joh 90 angenommen.
Quelle: Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder