Die Gefangenen in Babylon haben Heim- weh nach Jerusalem und der Prophet Jeremia rät ihnen in einem Trostbrief, sich nicht zurückzusehnen, sondern dort, wo sie nun einmal sind, Familien zu gründen und Häuser zu bauen. Der Prophet Elia hingegen wettert gegen die Baalspropheten und legt sich blutig mit Königin Isebel im eigenen Land an.
Nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 nach Christus wird das jüdische Volk seine Heimat in Israel, in Jerusalem, verlieren. Und Jüdinnen und Juden in aller Welt fragen sich seitdem: Was bedeutet mein Jüdischsein in der Fremde, in Argentinien oder den USA, in Frankreich oder Indien, im Libanon oder in Kenia? Wie sehr kann ich mich anpassen, wo muss ich mich abgrenzen? Wann gefährdet die Abgrenzung mein Leben?
Auch das Neue Testament ist vertraut mit Migration. Weise Männer aus dem „Morgenland“, dem näheren oder ferneren Osten also, machen sich auf nach Bethlehem in die Fremde, um einen König zu suchen, so erzählt es Matthäus. Ebenfalls nach Matthäus muss schon Josef mit Maria und dem neugeborenen Jesus nach Ägypten fliehen. Jesus selbst weiß als junger Mann, dass der Prophet nichts gilt im eigenen Land. Denen, die er aussendet, rät er, den Staub von den Füßen zu schütteln, wenn sie nicht aufgenommen werden. Und Paulus schließlich wird der erste große reisende Missionar, der unermüdlich von Ort zu Ort geht, um das Evangelium zu verbreiten, und schließlich die Grenze zu Europa überschreitet.
Migrare heißt wandern – und das wandernde Gottesvolk ist ein urbiblisches Bild von Mose bis zum Hebräerbrief. Unterwegs sein, sich in fremden Kulturen beheimaten, das ist eine Kernerfahrung der biblischen Erzählungen.
Die Kirchengeschichte schließlich ist im Anschluss an Paulus Missionsgeschichte und damit Migrations- und Inkulturationsgeschichte. Der so genannte Missionsbefehl aus Matthäus 28: „Gehet hin in alle Welt und machet zu Jüngern alle Völker...“ wurde zur Grundlage einer welt- weiten Ausbreitung des Christentums. Und es bedurfte mutiger Menschen, die bereit waren, ihre Heimat zu verlassen, um das zu tun.
Gleichzeitig werden sich so manche Xukuru-Indianer in Brasilien oder Adivasi in Südindien gefragt haben, was denn diese Menschen aus fremden Ländern bei ihnen wollten. Ein Überlegenheitsgefühl der Missionare gab es allzu oft, Selbstgerechtigkeit, die keine Wertschätzung der vorhandenen Kultur zeigte. In Afrika etwa war es oft ein Zeichen der Taufe, dass Frauen sich nun von Kopf bis Fuß verhüllten. Unter den gegebenen klimatischen Bedingungen war das kein Fortschritt, sondern ein Hygieneproblem.
In den fast elf Jahren als Bischöfin war ich qua Amt auch Vorsitzende des Missionsausschusses der Hermannsburger Mission. In der Geschichte dieser Missionsbewegung ist exemplarisch zu sehen, wie sehr damit gekämpft wurde, das Eigene zu bewahren und doch auch das Evangelium in einer anderen Kultur zu beheimaten. Eine Geschichte, die historisch umstritten ist, bleibt für mich in dieser
Hinsicht aufschlussreich: Louis Harms, der große Inspirator der Hermannsburger Missionsbewegung, der dafür Sorge trug, dass Missionare aus diesem kleinen Ort in der Lüneburger Heide nach Afrika reisten, soll sich heftig dagegen gewehrt haben, dass ein Bahnhof in Hermannsburg geplant wurde. So könnten ja neue und irritierende Ideen dorthin gelangen. Ob er nun tatsächlich dafür verantwortlich ist oder nicht: Hermannsburg hat bis heute keinen Bahnhof, obwohl es der größte Ort in der Region ist! Stattdessen halten die Züge in Unterlüß...
Es dauerte lange, bis die Kirchen begriffen, dass Mission keine Einbahnstraße ist. Und es dauerte lange, bis deutlich wurde, dass der christliche Glaube ein weites Herz hat für Inkulturation. Als ich bei einer Tagung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Australien war, gab es eine heftige Debatte um die Missionierung der Aborigines. Wie viel Aborgine-Kultur darf das Christentum aufnehmen? Ein Pfarrer der Ureinwohner sagte: „Glauben Sie wirklich, dass Gottes Geist auf Captain Cook gewartet hat, bis er australischen Boden berührte?“ Mit diesem Gedanken verteidigte er, dass Teile des Ahnenkultes der Ureinwohner in die Liturgie seiner Kirche aufgenommen wurden.
Die Inkulturation des Christentums ist auch in unserer Kultur mit Händen zu greifen. Ganz gewiss etwa ist in den biblischen Auferstehungserzählungen weder von Küken noch von Eiern oder Häschen als Fruchtbarkeits- und Lebenssymbolen die Rede. Und doch ist das Osterfest damit verbunden. Ob Jesus am 24. Dezember geboren wurde, darf gelinde gesagt, bezweifelt werden – aber die Sonnenwende ist ein wunderbares Datum, diese Geburt zu feiern. Kurzum: Rituale und Feste der Ureinwohner in Europa haben Eingang gefunden in christliches Brauchtum.
Mit dem Verfall des römischen Reiches breitete sich das Christentum in ganz Europa aus. Wer heute im so genannten christlichen Abendland Angst vor Migration hegt und pflegt, blendet die historische Tatsache aus, dass eben dieses christliche Abendland ohne Migration gar nicht erst entstanden wäre.