Als Esters Eltern sterben, nimmt ihr Cousin Mordechai sie als Pflegevater auf. In dieser Zeit hat der persische König Ahasveros seine Frau Waschti verstoßen, da diese sich geweigert hatte, auf seinen Befehl hin vor seinen Gästen zu tanzen. Die schönsten Mädchen des Landes werden an den Hof des Königs geholt und ein Jahr lang vorbereitet. Dann holt Ahasveros eine nach der anderen in sein Bett. Auch Ester wird zum König gebracht – und er „gewann Ester lieber als alle anderen Frauen … und er setzte die königliche Krone auf ihr Haupt und machte sie zur Königin an Waschtis Statt“. Was Ester dem König über all dem märchenhaften Geschehen allerdings verschwiegen hat, ist, dass sie jüdischer Herkunft ist. Sie gehört zu dem Volk, das Ahasveros' Vorgänger, Nebukadnezzar, gefangen genommen und aus Jerusalem und Juda weggeführt hat. Viele Jüdinnen und Juden lebten im Exil des persischen Reiches und waren dort offenbar nicht wohlgelitten.
Schwierigkeiten zeigen sich schon bald: Haman, der erste Mann des Königs, ärgert sich über Mordechai, weil der seine Knie nicht vor ihm beugt. Um sich dafür zu rächen, überredet Haman den König, ein Dekret für ein Judenpogrom zu befürworten. Der König vertraut Haman. Davon erfährt Mordechai und appelliert in dieser Situation an die Verbundenheit Esters mit ihrem Volk. Ester nimmt allen Mut zusammen und bittet den König, das Dekret zurückzunehmen: „Gefällt es dem König und habe ich Gnade gefunden vor ihm, und dünkt es den König recht und gefalle ihm, so möge man die Schreiben mit den Anschlägen Hamans … widerrufen, die er geschrieben hat, um die Juden umzubringen in allen Ländern des Königs. Denn wie kann ich dem Unheil zusehen, das mein Volk treffen würde?“ Sie erklärt nicht, was zu tun sei, sondern sie appelliert an des Königs eigene Entscheidungsfähigkeit. Und sie stellt sich zu ihrer Herkunft, zu ihrem Volk. Dazu gehört großer Mut!
Ester zeigt auf diese Weise eine Mütterlichkeit, bei der es weniger um biologische Mutterschaft geht, sondern um Verantwortung für andere – etwas, was im Begriff „Landesmutter“ ausgedrückt ist. Mir ist sehr wichtig, von Müttern im Glauben oder Müttern der Geschichte zu sprechen, auch wenn sie selbst keine leiblichen Kinder haben. Solche Mütterlichkeit können einzelne Menschen für andere zeigen – eine Patentante, eine Lehrerin, eine beherzte Passantin. Oder eben auch Frauen im politischen Bereich.
Leider kann Ester nicht alles Blutvergießen verhindern. Die vom Pogrom Bedrohten rächen sich an denen, die sie vernichten wollten, die Söhne Hamans werden gehängt, Feinde in großer Zahl getötet. Die Rache Gott zu überlassen, dieser Gedanke findet offenbar keinen Raum. Frieden zu finden durch Versöhnung, dazu kann Ester ihr Volk in dieser Geschichte nicht überreden. Das wäre gewiss auch ein Anspruch an eine Frau in politischer Verantwortung, die eine mütterliche Rolle einnimmt.
Mütterlich sein wie Ester können auch Frauen jenseits der aktuellen Politik. Ich denke an Hilde Schneider, für die ich 2008 die Trauerfeier gehalten habe. Ihr Meldebuch ist ein lapidares Zeugnis einer schrecklichen Geschichte: Zu ihrem Vornamen wird wegen ihrer jüdischen Herkunft „Sara“ hinzugefügt, aus „L“ wie lutherisch wird „Jüdin“, das „Pr“ für die preußische Staatsangehörigkeit wird durch „staatenlos“ ersetzt. Der Eintrag vom 15.10.41, “unbekannt nach Riga abgeschoben“, wird 1945 verändert in „KZ-Lager“ und es werden schlicht die nächsten Adressen von Hannover über Göttingen bis Bremerhaven eingetragen. Zahlen, die nur ahnen lassen, welche Demütigungen, welche Schrecken und Qualen dahinterstehen. Hilde Schneider hatte bei allem den Mut, im Lager mit den anderen Frauen die Bibel zu lesen, sie zu trösten – obwohl sie von der Kirche und der Henriettenstiftung, in der sie als Diakonisse ausgebildet worden war, aufgrund ihrer jüdischen Herkunft nicht geschützt wurde. Nach dem Krieg ging sie den schweren Weg des Theologiestudiums und wurde schließlich nach langwierigen Kämpfen ordiniert. Sie arbeitete 14 Jahre lang als Gefängnisseelsorgerin im Frauengefängnis Frankfurt-Preungesheim. Sie wurde für viele Häftlinge zur mütterlichen Figur, auch wenn sie selbst nie eigene Kinder hatte. Für Hilde Schneider war ihr Glaube der Halt, der ihr Orientierung gab in Zeiten, in denen nichts verlässlich war.
Ob der Glaube Ester Kraft gab? Wir wissen es nicht. Gott sei Dank aber wird am Purimfest an Königin Ester erinnert. Solche Vorbilder einer mütterlichen Lebenshaltung zeigen etwas von der Sorge für andere. Sie machen deutlich, dass Mütterlichkeit nicht Rückzug oder Weltfremdheit bedeutet, sondern Einmischung, Verhandlungsgeschick und Standhaftigkeit.