Vorwürfe wird sie sich machen, dass sie so dumm war, sich in einen gebundenen Mann zu verlieben. Wird die Geliebte schwanger, so wird das Problem größer. Wenn der Mann nicht bereit ist, für sie seine Familie zu verlassen, wird er wohl zur Abtreibung raten. Treibt sie aber nicht ab, dann kommen jahrelange Streitigkeiten auf beide zu. Nach unserem Unterhaltsrecht muss der leibliche Vater zahlen, ob er das Kind wollte oder nicht. Nichteheliche Kinder werden inzwischen ehelichen Kindern gleichgestellt.
Was bedeutet es, unter diesen Umständen Mutter zu werden? Auch wenn die biblische Geschichte der Hagar in Vielem nicht mit heute verglichen werden kann: Gefühle von Eifersucht und Verlassensein spielten auch damals eine Rolle, nur mit anderen Vorzeichen. In biblischer Zeit gab es kein Selbstbestimmungsrecht für Frauen. Hagar war auch keine Geliebte im heutigen Sinne. Sie war die „Magd“ von Sara, der Frau Abrahams, ohne Dienstverhältnis mit Rechtsstatus und Bezahlung, somit Sklavin. Als Sara erkennt, dass sie offenbar kein Kind bekommen kann, sagt sie zu ihrem Mann: „Geh doch zu meiner Magd, ob ich vielleicht durch sie zu einem Sohn komme.“ Und weiter heißt es: „Und er ging zu Hagar, die ward schwanger.“ Solche Sätze kommen in der Bibel ziemlich lapidar daher. Kein Gedanke über Gefühle oder emotionale Entwicklungen taucht auf. Es geht um die Nachkommenschaft des Stammes.
Aber vielleicht können wir nachempfinden, wie Hagar sich fühlt? Ein junges Mädchen ist sie wahrscheinlich, das an einen alten Mann verschenkt wird; in der Bibel heißt es, Abraham sei bei Ismaels Geburt 86 Jahre alt gewesen. Es ist letzten Endes eine Vergewaltigung, von der hier erzählt wird. Wenn der unsägliche Begriff „Gebärmaschine“ einen Ort im Leben hat, dann wohl hier. Es geht nicht um Begehren oder erfüllte Sexualität, nicht um den Kinderwunsch einer Frau, alles dreht sich allein um die Fortpflanzung eines Mannes.
Der Fortgang der Geschichte aber zeigt, dass es eben nicht so einfach ist, Gefühle auszusperren. Hagar wird stolz darauf, dass sie schwanger ist. Und Sara tobt. Wir können uns vorstellen, welche Dynamik diese Dreiecksgeschichte im Hause Abrahams entfaltet. Eifersucht, Hochmut, Angst, Zorn: heftige Gefühle allerorten. Abraham überlässt es Sara, mit Hagar zu machen, was sie will. Hagar ihrerseits ist klar, dass sie keinen Schutz hat, und sie flieht in die Wüste. In der Schwangerschaft ist eine Frau besonders verletzlich. Wenn dann noch der Vater des Kindes nicht zu ihr steht, wenn sie angegriffen wird, kann es zu Kurzschlusshandlungen kommen. Ob Hagar so verwirrt und verzweifelt war, dass sie in der Wüste sterben wollte? Dort in der Einsamkeit begegnet ihr ein Engel. Er „findet“ sie an der Wasserquelle – und schickt sie zurück. Er sagt ihr, sie solle nicht aufbegehren gegen Sara. Sie werde einen Sohn gebären und ihre Nachkommenschaft werde so zahlreich, „dass man sie vor Menge nicht zählen kann“. So kehrt Hagar zurück.
Vielen Frauen, die schwanger sind, ohne dass der Vater des Kindes zu ihnen steht, geht es sicherlich ähnlich. Erst ist da vielleicht große Freude über die Schwangerschaft, Stolz gar. Aber irgendwann kommt die Angst: Wie soll das gehen, allein mit dem Kind? Sicher, heute und hierzulande kann eine Frau ohne Ehepartner schwanger werden und muss nicht mehr befürchten, diskriminiert zu werden. Ganz anders ist das in anderen Ländern und Gesellschaften. Kürzlich wurde über ein Krankenhaus berichtet, in dem die Kinder per Kaiserschnitt geholt werden, wenn die Frauen die Schwangerschaft nicht länger verbergen können. Das Kind wird zur Adoption freigegeben und das Jungfernhäutchen der jungen Frau zugenäht – nicht nur, um einen Skandal zu vermeiden, sondern oft genug auch, um der Frau im wahrsten Sinne des Wortes das Leben zu retten. Noch immer meinen Männer in manchen patriarchalen Gesellschaften, ihre Ehre sei verletzt, wenn eine Tochter oder Schwester unverheiratet schwanger wird.
Machen wir uns nichts vor, auch bei uns ist es nicht einfach, als Frau allein ein Kind großzuziehen. Nicht umsonst sind alleinerziehende Mütter am stärksten von Armut bedroht. Sie haben Mühe, einen Arbeitsplatz zu finden, der mit der Versorgung des Kindes vereinbar ist. Aber auch abgesehen von den ökonomischen Fragen, ist es alles andere als leicht, mit einem Kind alleine zu sein. Dass der Mann, von dem die Frau meinte, er liebe sie, nicht zu ihr steht, nicht da ist, wenn das gemeinsame Kind geboren wird. Und in der Erziehung ist es schwer, alle Entscheidungen allein zu treffen.
Auch für Hagar und ihren Sohn kehrte kein Frieden ein. Sara wird später doch noch schwanger und bringt Isaak zur Welt. Sie erträgt es nicht, dass die Halbbrüder zusammen spielen, und verlangt von Abraham, dass er Hagar und Ismael wegschickt. Abraham scheint das schwerzufallen. Wohl weniger Hagars wegen, aber wegen seines Sohnes, so die Erzählung. Dennoch gibt er Hagar Wasser und Brot und schickt sie mit dem Kind fort in die Wüste. Was folgt, ist dramatisch. Hagar irrt mit Ismael umher. Das Wasser geht ihnen aus und sie „wirft“ ihren Sohn unter einen Strauch und weint: „Ich kann nicht mit ansehen des Knaben Sterben.“ Eine Situation zum Mitweinen! Was für ein schweres Leben einer Mutter, vergewaltigt, ungeliebt, gedemütigt. In der biblischen Geschichte ist es wiederum ein Engel, der Hagar antreibt: Nimm das Kind, Gott wird dir beistehen! Und sie findet eine Wasserquelle.
In Erzählungen von Frauen auf der Flucht, von Frauen in Kriegssituationen habe ich das oft gehört. Wenn es um dein Kind geht, dann wachsen dir plötzlich mitten in der Verzweiflung Kräfte zu, von denen du gar nicht geahnt hast, dass sie in dir schlummern. Wenn du ganz auf dich gestellt bist und siehst dein Kind, dann weißt du auf einmal: Für dieses Kind werde ich es schaffen! Dort in der Wüste zieht Hagar ihren Sohn Ismael groß, ganz allein. Das letzte, was von ihr berichtet wird, ist, dass sie ihm eine Frau aus Ägyptenland aussucht, aus ihrer Heimat...