Jesaja: Ein Mächtiger zeigt sich offen für Neues

Die Kunstgeschichte hat ihn oft als „Mohrenkämmerer“ bezeichnet, ein Wort, das wir heute glücklicherweise nicht mehr benutzen. Das griechische Original spricht von einem Eunuchen. Uns ist er als – freilich namenloser – Kämmerer aus Äthiopien bekannt, der eine besondere Vertrauensstellung am Königshof hatte. Und schlicht wissen wollte, was der jüdische Prophet Jesaja zu sagen hatte.

„Der Kämmerer aus Äthiopien“ – das ist die biblische Erzählung über einen Mann, der viele Fragen hat. Laut Apostelgeschichte 8, 26–39 begegnet Philippus ihm, ein Engel hat ihn auf die Straße geschickt, auf der der Äthiopier in einer Kutsche unterwegs ist. Philippus hört, dass der Mann eine Weissagung des Propheten Jesaja laut liest. Philippus geht zu ihm und fragt: „Verstehst du auch, was du liest?“ Ein bisschen aufdringlich vielleicht. Aber der „Mächtige am Hof der Kandake“, also ein Mann von Status und öffentlicher Anerkennung, ist sich nicht zu schade, den anderen einzuladen und um „Nachhilfe“ zu bitten. Allein das finde ich beeindruckend: Ein Mann mit Macht, der zugesteht, nicht alles zu wissen, der lernen, verstehen will! Philippus erklärt ihm, dass nach seinem Verständnis Jesus die Erfüllung der Verheißungen der hebräischen Bibel sei. Der Kämmerer ist davon angerührt, beeindruckt, begeistert. Als sie an ein Wasser kommen, fragt er, ob irgendetwas dagegen spreche, dass er sich taufen lasse. Philippus sieht keine Bedenken und tauft ihn. Anschließend heißt es über den Kämmerer: „Er aber zog seine Straße fröhlich...“

Eine eindrückliche Geschichte. Ich habe mehrfach über diesen Bibeltext gepredigt. Es war für mich stets eine Erzählung darüber, dass wir selbst lesen, denken, fragen dürfen in unserem Glauben. Mir ging es in den Interpretationen immer darum, dass Bildung Teil des Glaubens ist. „Verstehst du, was du liest?“, fragt Philippus den Mann. Das heißt ja, wir dürfen fragen, verstehen wollen. Und für mich war auch stets das Übersetzen dabei Thema. Dass Martin Luther die Bibel in ein verständliches Alltagsdeutsch übersetzt hat, ist bis heute eine geniale Leistung. So war es möglich, dass Menschen selbst nachlesen und verstehen konnten.

„Verstehst du, was du liest?“ Heißt das, wir können die Bibel gar nicht einfach nur so lesen, ganz spontan? Bedeutet das, wir brauchen eine Anleitung? Lässt sich die Bibel nicht einfach so verstehen? Ich denke, im Gespräch zwischen Philippus und dem Äthiopier wird deutlich, dass wir uns austauschen sollten mit anderen. Manchmal verstehen wir nicht richtig, können nicht einordnen, was wir lesen. Wir brauchen Zusammenhänge und Anregungen. Das beginnt schon damit, dass wir begreifen: Was wir lesen in unserer Sprache, ist eine Übersetzung! Und die ist immer nur eine Annäherung an den Urtext. Ich habe allergrößte Bewunderung dafür, dass Martin Luther auf der Wartburg in nur elf Wochen das gesamte Neue Testament aus dem griechischen Urtext ins Deutsche übersetzte.

Anschließend hat er gemeinsam mit Philipp Melanchthon, Caspar Cruciger, Johannes Bugenhagen und anderen das Alte Testament übersetzt. Im September 1534 erschien die erste Gesamtübersetzung. Der Historiker Heinz Schilling schreibt: „Beendet war die Arbeit damit allerdings nicht. Schon das Neue Testament hatte man einer ständigen Revision unterworfen und dazu eine Bibelkommission berufen, die schon 1531 mehrmals wöchentlich tagte. ... Die ,Lutherbibel‘, wie die deutsche Übersetzung der Heiligen Schrift bald allenthalben genannt wurde, war somit eine Kollektivarbeit und müsste eigentlich die ,Wittenberger Reformatorenbibel‘ heißen.“ Diese Übersetzungsprozesse sind also der Versuch, sich dem Verständnis der Texte der Bibel gemeinsam anzunähern. Sie zeigen große Kreativität. Das Wort Gottes ist nicht statisch. Wir können nur darum ringen zu verstehen. Der Alttestamentler Jürgen Ebach hat einmal gesagt, übersetzen meine eben auch: üb’ ersetzen. Das ist ein gutes Bild, finde ich. Beim Übersetzen geht es also immer auch um das Verstehen, denn Übersetzen ist auch Interpretation. Martin Luther sah Jesus Christus als Mitte der Schrift an. Die Propheten, die auf den Messias verweisen, sieht er als Weissagungen auf Jesus von Nazareth. Und genau so interpretiert ja auch Philippus gegenüber dem Kämmerer. Da haben wir inzwischen viel dazu gelernt! Menschen jüdischen Glaubens lesen die prophetischen Weissagungen im hebräischen Teil der Bibel eben nicht mit Blick auf Jesus Christus.

Ich selbst habe kürzlich eine ganz neue Perspektive auf den Text entdeckt, die die Studierendenpfarrerin Dr. Kerstin Söderblom auf evangelisch.de veröffentlicht hat. Sie weist zum einen darauf hin, dass einer der ersten Getauften gemäß dieser Erzählung offensichtlich schwarze Hautfarbe hatte, da er aus Äthiopien stammt. Zudem wird erzählt, er sei Eunuch. Im fünften Buch Mose heißt es: „Kein Entmannter oder Verschnittener soll in die Gemeinde des Herrn kommen.“ Das bedeutet ja, der Eunuch war ausgegrenzt. Er war nicht erwünscht. Noch mehr: Er durfte gar nicht in die Synagoge kommen. Und doch liest er in der Bibel, versucht, den Propheten Jesaja zu verstehen. Er ist ein Mensch auf der Suche nach Glauben oder auch ein Glaubender, dem es verboten war, zur Gemeinde zu gehören.

Kerstin Söderblom verweist in ihrer Interpretation auf die US-amerikanische Pfarrerin Nadia Bolz-Weber. Ich habe sie vor ein paar Jahren auf einer Tagung des Lutherischen Weltbundes kennengelernt. Nadia hat eine sehr spannende eigene Biografie und ist in den USA dafür bekannt, dass sie sich besonders den Ausgegrenzten, Vorbestraften, Alkoholikern, Kriegsveteranen mit psychischen Belastungen, „Sündern aller Art“, wie sie sagt, zuwendet. Damit hat Nadia Bolz-Weber auch einen ganz eigenen Blick auf biblische Texte. Sie erklärt, Philippus habe nicht den Eunuchen bekehrt. Sondern der Kämmerer aus Äthiopien habe Philippus gewissermaßen bekehrt. Durch ihn hat Philippus eine Horizonterweiterung erfahren. Weil er begriffen hat, dass es völlig gleich ist, woher ein Mensch kommt, wie er aussieht, welches Geschlecht er hat. Es geht darum, dass ein Mensch nach Gott fragt, zugehörig sein will zur Gemeinschaft der Kinder Gottes. Ich bin Kerstin Söderblom und Nadia Bolz-Weber dankbar für meine Horizonterweiterung durch sie. Mich begeistert immer wieder, wie biblische Texte durch einen frischen Blick auf sie, durch neues Denken neu in unsere Zeit sprechen.

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