Lots Töchter kennen wir nicht mit Namen. Das Schicksal teilen sie mit vielen Frauen in der Bibel, Frauen sind schlicht Tochter von oder Frau von. Namen stehen für Identität, nennen wir die beiden Töchter von Lot also Naomi und Deborah.
Die beiden jungen Frauen verbindet eine furchtbare Erfahrung. Ihr Vater Lot lädt eines Tages zwei Männer in sein Haus ein, die in die Stadt Sodom gekommen sind. Engel seien sie, heißt es in der Bibel, Boten Gottes. Und Vater Lot will gastfreundlich sein. Da erscheint plötzlich ein Mob vor Lots Haus. Die grölende Menge verlangt, die Männer herauszugeben, um sie zu vergewaltigen! Warum, ist die große Frage, was soll das? Die einzig einigermaßen logische Erklärung, die ich je gefunden habe, ist, dass in Sodom Sexualität eine große Rolle spielte. Es ging offenbar drunter und drüber. Da waren die beiden Fremden sozusagen „Frischfleisch“, mal etwas Neues. Das erinnert übel an manches Bordell heute. Oder hatte irgendein Gerücht den Mob aufgestachelt? Die Menschen im Haus sind völlig verängstigt. Was soll Lot tun? Das Gastrecht ist ihm heilig, Gäste sind unbedingt zu schützen. So schlägt Lot der Menschenmenge vor dem Haus vor, ihnen statt der Männer seine beiden Töchter auszuliefern, die noch unberührt seien.
Was die Bibel da in kurzen Worten beschreibt, ist eine unfassbare, brutale Szene. Wie mögen sich die beiden jungen Frauen gefühlt haben? Zunächst hatten sie sicher große Angst angesichts des Mobs überhaupt. Lot selbst war als Fremder in die Stadt Sodom gezogen. Zwar war seine Frau eine Einheimische, aber als Zugezogene gilt die Familie insgesamt. Vielleicht grenzte sich Lot auch ab, weil er Gottes Geboten folgen wollte und sich der so sexualisierten Gesellschaft in Sodom nicht anpassen wollte. Aber dann will der Vater die Töchter herausgeben? Wie durch ein Wunde„r schafft es Lot zurück ins Haus, niemand wird vergewaltigt, er kann sich mit seinen Gästen und seiner Familie im Haus verschanzen. Doch der Schock wird bleiben. Das Vaterbild der Töchter wird zutiefst erschüttert sein. Männliche Exegeten haben immer wieder erklärt, dass das Gastrecht in jener Zeit schlicht höher stand als der Schutz der Töchter. Oder Lot habe ja nur zeigen wollen, dass es so schlimm doch nicht um die Sodomiter bestellt sei, er war sicher, dass sie dieses Angebot gewiss nicht annehmen würden. Erst als Frauen beginnen, die Bibel auszulegen, wird das Empörende deutlich: Warum stellt sich der Vater nicht vor seine Töchter?
Oder stimmt in dieser Familie etwas ganz und gar nicht? Die Geschichte jedenfalls geht auf unfassbare Weise weiter. Die beiden Engel oder Boten machen klar, dass Sodom von Gott zerstört werden wird. Sie drängen Lot, mit Frau und Töchtern zu fliehen. Lots Frau hält sich nicht an die Vorgabe, auf der Flucht nicht zurückzuschauen, und erstarrt zur Salzsäule. Sodom wird zerstört. Lot aber zieht sich mit seinen Töchtern in eine Höhle zurück. Dort, so erzählt die Bibel, sorgen Naomi und Deborah an zwei Nächten hintereinander dafür, dass der Vater betrunken ist, und bringen ihn dazu, sie beide zu schwängern. Die Söhne, die geboren werden, Moab und Ben-Ammi, Kinder des Inzest, werden die Stammväter der Moabiter und Ammoniter, zweier Völker, mit denen Israel verfeindet ist. Manche vermuten, dass die skandalöse Herkunftserzählung diese Feindschaft begründen soll.
Stellen wir uns die beiden Mädchen vor, Naomi und Deborah. Elf, zwölf Jahre werden sie alt gewesen sein. Kommt ein zwölfjähriges Mädchen auf die Idee, sich vom Vater schwängern zu lassen? Ich finde, das riecht geradezu nach einer konstruierten Geschichte nach dem Motto: Die Tochter hat den Vater verführt, er ist nicht Schuld an der Situation.
Naomi und Deborah verbindet eine Leidensgeschichte. Sie wachsen in einer Umgebung auf, in der sie sich fremd fühlen. Ihre Mutter stammt aus Sodom, sie wird sich zuhause gefühlt haben. So wird die Bindung an den Vater besonders eng,
sie sind eine Schicksalsgemeinschaft. In neueren Auslegungen wird immer öfter gefragt, ob es hier nicht um einen geradezu klassischen Fall von Missbrauch geht. Der Vater bindet die Töchter besonders an sich. Sie sind eine verschworene Gemeinschaft. Er demonstriert geradezu die Macht über ihr Leben. Einer Menge zwei „Unberührte“ zur Verfügung zu stellen, löst sexuelle Fantasien aus. Vielleicht waren Naomi und Deborah zwar nicht verheiratet, doch längst vom Vater „berührt“, geschändet. Die Mutter ist ausgeschlossen aus dem Dreierbündnis, ja sie sehnt sich zurück nach Sodom – und stirbt. Jetzt sind die Mädchen dem Vater vollends ausgeliefert. Inzest galt auch in jenen Zeiten als Tabu. Also wird erklärt: Sie haben den armen betrunkenen Vater verführt, weil sie unbedingt Kinder wollten. Und so werden sie doppelt zum Opfer, erst ihres Vaters, dann der Gesellschaft, die ihnen nicht glaubt. Genau diese Erfahrung machen viele Missbrauchsopfer heute.
Das einzig Tröstliche für mich an dieser furchtbaren Geschichte ist, dass die beiden Schwestern einander haben. Sie können zumindest miteinander reden, Worte finden für das Grauen. Wir wissen spätestens aus der #metoo-Debatte, wie viele Mädchen und Frauen schweigen, weil sie Angst haben, eingeschüchtert werden. Wir wissen von Missbrauchsopfern, dass ihnen nicht geglaubt wird, sie sich zurückziehen, sie in Depressionen fallen.
Naomi und Deborah werden doppelt und dreifach zu Opfern. Zuerst ist der Vater offenbar ohne große Bedenken bereit, die Töchter der Gruppenvergewaltigung preiszugeben. Dann missbraucht er selbst sie. Und schließlich werden sie von der biblischen Erzählung zu Täterinnen gemacht. Wer Bilder von ihnen sieht, etwa von Brueghel oder Tintoretto, muss feststellen, dass sie als Verführerinnen gezeichnet werden, barbusig, dem Vater Wein einflößend.
Ich kann mir vorstellen, dass es für Missbrauchsopfer schwer erträglich ist, diese Geschichte in der Bibel zu lesen.