Viele Menschen beten zu Maria, der Mutter Jesu. Ich habe Mühe damit, dazu bin ich zu lutherisch. Luther meinte, wir müssten nicht andere, Heilige, Priester oder auch Maria um Fürsprache bitten, sondern können selbst mit Gott sprechen im Gebet. Was mich aber oft bewegt, ist, wie Maria auf die unterschiedlichste Weise in der ganzen Welt gegenwärtig ist. Neben dem Gekreuzigten ist sie durch die Jahrhunderte immer wieder abgebildet worden: mit dem Säugling, unter dem Kreuz und als Mutter mit dem Leichnam des Sohnes. Menschen küssen ihr Bild, knien vor ihr, rufen zu ihr. Allein an zehn Tagen im Jahr wird in Kirchenkalendern an Maria gedacht.
Wer hätte geahnt, dass ein einfaches Mädchen aus Israel so bekannt werden könnte! Vielleicht sehen die Menschen so viel in ihr, weil sie ihre Muttergefühle nachvollziehen können. Jesus wirkt oft so abgeklärt, er wird manchmal geradezu übermenschlich stark dargestellt. Vielleicht ist es die Spiritualität des Lebens selbst, die viele mit Maria verbinden. Frauen beispielsweise, die ein Kind gebären und diesen überwältigenden Vorgang als ein Wunder Gottes erfahren, machen durchaus eine spirituelle Erfahrung. Die Liebe zu einem Kind ist ein großes Geheimnis, das bildet sich in den vielen Bildern von Maria und Jesus ab. In ihnen liegt eine große Zärtlichkeit oder auch Zartheit. Du erfährst in Situationen großen Glücks die Gegenwart Gottes, das Göttliche ist dir ganz nahe, du spürst geradezu, welcher Geist weht.
Aber Maria hat auch viel Leid erfahren. Ich denke, für eine Mutter muss es die grausamste Erfahrung überhaupt sein, das eigene Kind sterben zu sehen. Leiden, scheint Maria zu sagen, ist Teil unseres Lebens! Auch wenn du leidest, kannst du Gott erfahren. Weil du denkst, du kannst das nicht aushalten, aber dir dann eine Kraft geschenkt wird, mit der du über dich selbst hinaus wächst. Das erinnert mich an Dietrich Bonhoeffer, der einmal geschrieben hat, Gott schenke uns solche Kraft nicht im Voraus, damit wir nicht hochmütig werden, aber im entscheidenden Moment finden wir sie. Wobei mir wichtig ist: Gott will nicht, dass wir leiden. Manchmal graust es mir, wenn Menschen sich selbst kasteien, demütigen, schlagen, verletzen, weil sie meinen, durch Leiden Gott näher zu kommen. Es gab sogar theologische Ansätze, die meinten, es sei gut, möglichst viel zu leiden, um Christus ähnlicher zu werden.
Andererseits blenden viele Menschen heute Leid, auch die Grausamkeit des Todes aus. Die eigene Sterblichkeit wird ignoriert. Mir liegt daran, den Tod in das Leben zu integrieren, als Station auf dem Weg hin zu Gott sozusagen und nicht als Endpunkt. Was ich durch den Tod von Marias Sohn verstanden habe, ist, dass eben sein Tod einen Doppelpunkt setzt. Das ist der Dreh- und Angelpunkt des christlichen Glaubens: Auferstehung, Überwindung des Todes. Maria in ihrer Trauer scheint zu warnen: Das darf jetzt aber nicht zu schnell gehen mit der Auferstehungshoffnung. Denn der Tod tut weh. Das eigene Sterben kann schwer sein, das Loslassen. Und es ist oft ungeheuer belastend, einen Menschen sterben zu sehen, den wir sehr lieben, oder mit dem plötzlichen Tod konfrontiert zu sein. Es sind auch die Tränen über den Tod ihres Sohnes, die viele Menschen zu Maria hinziehen. Sie fühlen sich verstanden, weil sie selbst erlebt hat, was Leiden bedeutet, Trauer, Unglück, Verzweiflung.
Maria gilt auch als Sinnbild von Barmherzigkeit. Wie sie sich herabbeugt zu ihrem Sohn, dem Säugling wie dem Leichnam! Die Grundlage dafür ist immer die Liebe. Du kannst Gott als Liebe erfahren und in der Liebe Gott. Gott wurde immer wieder die Rolle des strafenden alten Mannes, des Überwachers aller Fehltritte, des Rächers zugeschrieben. Das ist ein Gottesbild, vor dem ich mich fürchten muss, vor dem ich weglaufe. Gott stattdessen zu erfahren als Liebe, als meine Befähigung zum Lieben, kommt dabei zu kurz.
Ja, die Liebe ist ein eigenes Thema der Spiritualität. In vielen Texten des Glaubens wird das Lieben als Gotteserfahrung dargestellt. Mechthild von Magdeburg etwa, die im 13. Jahrhundert in einer Beginengemeinschaft lebte, nahm geradezu Gottes Liebeserklärungen wahr, die sie aufschrieb: „Dass ich überaus liebe, das habe ich von Natur, weil ich die Liebe selber bin. Dass ich dich oftmals liebe, hab ich von meiner Sehnsucht, weil ich ersehne, dass man mich herzlich liebt. Dass ich dich lange liebe, kommt von meiner Ewigkeit, weil ich ohne Anfang und ohne Ende bin.“
Diese Wahrnehmung ist gut biblisch. Im ersten Johannesbrief heißt es: „Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (4,16) Aber wie die Spiritualität wird auch unsere Beziehungserfahrung oft unter Nützlichkeitsgesichtspunkten wahrgenommen: Glückserfüllung für mich. Dass es auch um den anderen, um den ganz anderen geht, ist verloren gegangen. Die Tiefe von Liebe ist Hingabe und das spüren Menschen an der Gestalt der Maria. Beziehung ist immer ein Prozess von Geben und Nehmen. Wenn das nicht in der Erfahrung der Menschen verankert ist, ist es schwer zu verstehen. „Gott hält mich“ kann ich nicht begreifen, wenn mich niemand gehalten hat. Und gleichzeitig gibt es eine tiefe Sehnsucht von Menschen nach Beziehung, auch wenn sie keine Erfahrung von gelingender Beziehung haben. Deshalb ist es so wichtig, dass Menschen hören und erfahren: Gott liebt mich.
Steht Maria für die besondere Spiritualität von Frauen? Ich habe immer wieder den Eindruck, Frauen sind offener für die Erfahrungsebene des Glaubens. Männer müssen mehr festhalten, Theologie muss für sie „richtig“ sein. Oft denke ich, die Angst vor der feministischen Theologie ist so groß, weil wir uns durch sie öffnen für neue Bilder und Erfahrungen. Wenn Gott auch als Freundin erfahren werden kann, als Mutter, als „die Ewige“, als Henne (Matthäus 23,37!), dann ändert sich unser Gottesverständnis.
Auf diesem Weg sind viele Frauen Maria neu begegnet, denen sie zunächst fremd schien, weil Bilder sie festlegen. Vermutlich liegt das an all dem Ballast von ewiger Jungfräulichkeit, obwohl doch in der Bibel immer wieder von ihren anderen Kindern die Rede ist. Es wurde recht viel konstruiert bis hin zur direkten Aufnahme in den Himmel. Davon ist in der Bibel nicht die Rede! Vielleicht wollten die Theologen Maria in einen Schonraum von Besonderheit, Unantastbarkeit einschließen, damit sie etwas ganz anderes, ganz besonderes ist und damit alle ihre Liebe und ihr Glück, aber auch ihren Schmerz und ihre Trauer bei ihr abladen dürfen. Dabei ist das Wunder ja: Maria war bis zuletzt eine einfache Frau aus Nazareth.