Im fünften Buch Mose wird erzählt, wie diese große Gestalt der biblischen Geschichte sich auf seinen Abschied und auch auf den Tod vorbereitet. Gott hatte ihn das Land, das verheißen war, noch sehen lassen, von einem Berggipfel aus. Aber Gott hat auch klar gemacht, dass Mose dieses Land selbst nicht betreten würde, sondern Josua das Volk Israel auf der letzten Etappe führen sollte. Und Mose? Er könnte jetzt hadern: Ich habe so viel geleistet, das ist ungerecht. Aber er beschwert sich nicht, sondern akzeptiert in aller Ruhe, dass seine Zeit vorbei ist. Zuallererst setzt er Josua offiziell als Nachfolger ein. Danach hinterlässt er ein Ritual, durch das sich die kommenden Generationen an den Weg Gottes mit seinem Volk erinnern sollen. Ein Land braucht Erinnerungskultur! Und dann ermutigt Mose alle miteinander: „Seid getrost und unverzagt.“ (5. Mose 31,7)
Dieses Bild – auf dem Berg zu stehen, zurück und gleichzeitig nach vorn zu schauen – ist schön: Ein Mensch darf einen Blick auf die Zukunft werfen, die voller Hoffnung ist. Nun müssen wir sagen: So gelobt war das Land am Ende gar nicht. Das Volk Israel siedelte sich nach der biblischen Erzählung zwar an, hatte aber schwere Zeiten vor sich, wurde schließlich im Jahr 70 nach Christus vertrieben in alle Welt. Erst nach der Katastrophe des Holocaust, der Shoa, konnte 1948 ebendort der Staat Israel gegründet werden. Und der ist heute von außen angefeindet und innerlich zerrissen.
Was also hat Mose gesehen? Er hatte sein Volk aus der Sklaverei in Ägypten in die Freiheit führen wollen. Nach 40 langen Jahren in der Wüste erreicht es endlich das Land, in dem „Milch und Honig fließen“. Mose hat von einem Berg aus gesehen, wie es sein könnte, ein friedliches Zusammenleben der Menschen, ausreichend Nahrung für alle. Freiheit, den Glauben zu leben und ja, Glück – dafür stehen wohl Milch und Honig.
Die Mose-Erzählung berichtet von einem Mann, der voller Gottvertrauen seinen Weg gegangen ist. Und sie macht klar: Verantwortung ist auf Zeit verliehen. Wir sollten sie wahrnehmen, aber auch abgeben können. In unserem Zeitalter des Individualismus meint jeder Mensch, absolut einzigartig sein zu müssen. Durch Leistung, durch Kleidung oder durch Tattoos. Da kann es guttun, sich im Zusammenhang mit anderen zu sehen: Ich bin schlicht Teil einer Tradition, einer Familie der Kinder Gottes. Auch der Tod hat dann eine andere Bedeutung. Ich lebe den mir zur Verfügung stehenden Lebensabschnitt bewusst. Und kann dann mein Leben wieder zurückgeben in die Hand Gottes. Wer an ewiges Leben glaubt, muss in dieser kurzen Erdenzeit nicht alles leisten! Das ist entlastend. Dabei ist der Glaube gerade nicht Opium des Volkes, weil ich mit dem Unrecht dieser Welt nicht fertig werde und mich daher auf eine bessere Welt vertröste. Nein, der Glaube an Gott ermutigt geradezu, sich aufzubäumen gegen das Unrecht dieser Welt, weil wir als Christinnen und Christen schon hier und jetzt Zeichen setzen wollen für Frieden und Gerechtigkeit, wie Gott sie verheißen hat. Seit den Zeiten des Mose wird eine Vision tradiert. Es sind Bilder, die uns zeigen, wie das Gelobte Land aussehen könnte, wie Menschen in Freiheit und ohne Hunger leben könnten.
Am berühmtesten zeigt sich das wohl in der Rede Martin Luther Kings am 3. April 1968, dem Abend vor seiner Ermordung, in der er sich auf Mose bezieht: „... ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen. Ich mache mir keine Sorgen. Wie jeder andere würde ich gern lange leben... Aber darum bin ich jetzt nicht besorgt. Ich möchte nur Gottes Willen tun. Er hat mir erlaubt, auf den Berg zu steigen. Und ich habe hinübergesehen. Ich habe das Gelobte Land gesehen. Vielleicht gelange ich nicht dorthin mit euch. Aber ihr sollt heute Abend wissen, daß wir, als ein Volk, in das Gelobte Land gelangen werden. Und deshalb bin ich glücklich heute Abend. Ich mache mir keine Sorgen wegen irgendetwas. Ich fürchte niemanden. Meine Augen haben die Herrlichkeit des Herrn gesehen.“
Wenn wir keine Hoffnungsbilder kennen, auf die wir hinarbeiten, wozu sich dann engagieren? Es sind Hoffnungsbilder von Freiheit und Frieden, die bis heute Menschen umtreiben, ja antreiben, sich auf die weite Reise zu machen vom Senegal nach Europa. In die Hoffnung auf das Gelobte Land können wir unser eigenes Leben gut einordnen. Jeder und jede von uns hat bestimmte Gaben. Das hat uns Martin Luther klargemacht, wir alle können etwas beitragen, jeder und jede hat einen Beruf, eine Berufung.
Aber vielleicht genügen auch Erfahrungen, die Hoffnung machen. Ich denke an Nelson Mandela, der nach 27 Jahren im Gefängnis mit einem Lächeln auf dem Gesicht seinen politischen Gegnern die Hand zur Versöhnung reichte und damit das Ende der Apartheid in Südafrika eingeläutet hat. Ich denke an die friedliche Revolution in der DDR. Die Mauer fiel – ohne Gewalt. Das sind doch Zeichen für das Gelobte Land! Wie es in dem schönen Lied heißt: „Wir haben Gottes Spuren festgestellt auf unsern Menschenstraßen...“ (Diethard Zils)
Es gab und gibt auch Rückschläge, natürlich. Dass nach 1989 nicht alle Energie und alles Geld in eine weitere Entspannung, mehr Gerechtigkeit investiert wurde und stattdessen die Konfrontation zwischen Ost und West wieder wächst – das enttäuscht. Die Niederschlagung der Demokratiebewegung in China, der Krieg in Syrien, das Gebaren eines Donald Trump, dieses Gehetze gegen Flüchtlinge in Deutschland – das schmerzt. Rückschläge tun weh, sie verletzen. Aber ein keimfreies Leben ohne Narben und ohne Niederlagen bedeutet ja nicht, ein gelingendes Leben zu führen. Ein Freund sagte neulich: „Wenn ich gewusst hätte, dass ich noch einmal so glücklich werden könnte wie heute, wäre ich damals nicht so unglücklich gewesen.“ Ich musste lachen, denn genau das ist ja Altersweisheit. Auch wenn etwas nicht gelingt, nimmt das den Hoffnungsbildern nicht ihre orientierende Kraft.