In der Bibel heißt es: „Als aber der Sohn der Schwester des Paulus von dem Anschlag hörte, ging er und kam in die Burg und berichtete es Paulus.“ (Apg 23,16) Wir wissen nicht, wie die Schwester des Apostels hieß, nennen wir sie Sophia. Sie kommt nur dieses eine Mal in der Bibel vor, aber anscheinend sorgt sie sich um den Bruder. Sie weint und klagt. Ihr Bruder wurde verhaftet und sie kann gar nichts tun.
Stellen wir uns die Geschichte vor: Ruben, so will ich den Neffen des Apostel Paulus gern nennen, ist aufgeregt. Er war am Abend ganz entspannt in einer Kneipe in Jerusalem, als ein Freund sich zu ihm setzte und ihm zu flüsterte, es gebe eine Verschwörung, seinen Onkel zu ermorden. Ein Anschlag ist geplant, ein Attentat auf Rubens Onkel Paulus! Das schockiert den jungen Mann zutiefst. Dieser Anschlag muss verhindert werden, das ist Ruben klar.
Ruben rennt zum Gefängnis in der Burg Antonia. Er muss den Onkel warnen, ja er muss die Wachen, die Betreuer warnen, dass sich da etwas zusammenbraut. So eine Verschwörung ist nicht zu unterschätzen, es sind unsichere Zeiten, aber gerade durch die Gefahr, die überall lauert, werden manche auch leichtsinnig oder sagen wir, abgestumpft.
Ruben kennt sich aus in Jerusalem, schon lange lebt er hier. Zum Glück ist der Onkel ja wie Ruben und seine Familie römischer Bürger. Ruben mag seinen Onkel sehr gern. Damals, als sie noch in Tarsus lebten, war er oft bei ihnen zuhause. Manchmal hat er ihn mitgenommen zu Wettkämpfen in der Arena oder auf den Markt, wo Leute debattiert haben, das war toll. Der Onkel konnte sogar Griechisch, das hatte er in der Schule gelernt. Ruben hat das fasziniert. Der Onkel hat ihm eine Welt gezeigt, die über das jüdische Leben in der Familie und der Gemeinde hinausging.
Saulus war zu einer respektierten Person in der Jerusalemer Gemeinde geworden. Und er legte sich an mit einer merkwürdigen Sekte, die behauptet, ein gekreuzigter Jude sei Gottes Sohn. Stolz war Sophia auf ihren Bruder. So ein Unsinn muss von Anfang an bekämpft werden, sonst folgen ihm noch viele Menschen. Saulus war da ganz klar, Recht musste Recht bleiben, Aufruhr bestraft werden.
Aber dann ist Saulus irgendetwas passiert, in der Nähe von Damaskus hatte er offenbar einen Unfall. Tagelang hört Sophia nichts von ihm, die ganze Familie ist in Aufruhr. Und dann ist er irgendwie ganz anders. Als wäre er einer Gehirnwäsche unterzogen worden. Auf einmal will er diese Christen nicht mehr verfolgen, sondern sagt, dass Jesus von Nazareth, dieser gekreuzigte Jude, den Weg zu Gott aufzeigen würde. Sophia, ihre Eltern, ihr Mann, sie sind fassungslos. Was ist nur mit Saulus passiert? Und jetzt nennt er sich auch noch mit seinem römischen Namen Paulus, läuft herum, predigt geradezu. Er reist überall herum und erklärt, dieser tote Jesus von Nazareth sei der Messias, den die Propheten der Heiligen Schrift verheißen haben. Apostel nennt er sich. Und er sagt, nicht nur Frauen und Männer jüdischen Glaubens, sondern alle, auch die Heiden, seien Gottes Kinder.
Als Paulus gefangen genommen wird, ist Sophia außer sich. Ihr Bruder ein Verbrecher? Sie will ihn nicht besuchen, was sollen nur die Nachbarn denken? Aber Ruben ist neugierig, er will das alles verstehen. Es fasziniert ihn, dass der Bruder seiner Mutter offenbar ein so bedeutender Mann ist. Und so besucht er Paulus. Der Onkel freut sich, als Ruben zu Besuch kommt. Er muss lächeln, der junge Mann sieht seiner Schwester so ähnlich!
Ruben erzählt dem Onkel, was er gehört hat. Paulus reagiert ruhig und nachdenklich. Ja, das kann sein, dass Menschen, die seine Meinung nicht teilen, ihn am liebsten ermorden wollen. „Aber“, sagt er zu seinem Neffen, „das können wir am Ende nicht verhindern, das liegt doch in Gottes Hand. Ich habe nichts Böses getan. Für mich war nur dieses Erlebnis in Damaskus so eindrücklich, dass ich überzeugt bin, Jesus von Nazareth ist Gottes Sohn. Und Jesus war absolut dagegen, dass Menschen zu den Waffen greifen. Am Ende ist er selbst ohnmächtig und hilflos gestorben und fand das besser, als wenn seine Anhänger sich in einen Krieg mit den Feinden begeben hätten. Nächstenliebe, die so absurd erscheint in der Welt, sie war das Markenzeichen von Jesus. Und dabei will auch ich bleiben. Selbst wenn ein Anschlag geplant ist, ich werde mich nicht wehren.“
Ruben ist fasziniert und beeindruckt. Das ist doch mal richtiger Mut! Andere hätten sicher gesagt: Besorg mir eine Waffe, aber ganz schnell. Er mag diesen merkwürdigen Onkel nicht nur, das geht über das Geheimnis, die Gefahr, die am Anfang so anziehend war, hinaus. Er erzählt seiner Mutter davon, doch die schüttelt nur den Kopf. Was für ein Unfug! Aber sie gibt Ruben immer wieder gutes Essen mit für Paulus und frische Wäsche auch, schließlich ist er ihr Bruder. Ja, Sophia macht sich Sorgen. Und es freut sie ein wenig, dass sie sieht, wie Ruben sich ihrem Bruder annähert. Auch wenn sie gewiss nicht alles versteht, so bleibt sie ihrem Bruder doch nahe über all die Gräben von Unverständnis und Entfremdung hinweg.
Nach zwei Jahren wird der Prozess einfach niedergeschlagen. Ruben hört immer mal Gerüchte, einige sagen sogar, Paulus wäre nach Rom gekommen und getötet worden. Kam es also doch noch zu dem Anschlag, vor dem Ruben warnen wollte? Er weiß es nicht. Aber die zwei Jahre, in denen er seinen Onkel regelmäßig besucht hat, wird er nie vergessen.