Der Begriff leidet an einer gewissen Unschärfe, ist aber nicht so irreführend wie „Menschwerdung“ (und Gottmensch). Die dogmatische Formulierung des Konzils von Chalkedon 451 verwendet das Denkmodell der Hypostatischen Union, in der die menschliche Natur Jesu Christi vom göttlichen Logos (Wort) für immer als ihm eigene angenommen wurde. Inkarnation bezeichnet so in bestimmter Hinsicht ein Werden Gottes zu dem, was er nicht „immer schon“ war, aber nicht seine Verwandlung in etwas anderes. Die Formulierung „menschliche Natur“ lässt nicht deutlich erkennen, was mit ihr gemeint ist: Menschsein mit allem, was dazu gehört, menschliches Bewusstsein, das fragend und anbetend sich als völlig verschieden von Gott versteht, begrenzte Erkenntnis mit Lernen und Wachsen, Einbindung in soziale Verhältnisse und Umwelt, spontane Subjektivität mit Gefühlen und Freiheit (die durch die Einheit mit Gott wächst und nicht abnimmt), Leiden und Sterbenmüssen. Dieses wahre Menschsein ist der heutigen Mentalität nicht so fremd wie seine Einheit mit dem lebendigen, unbegreiflichen Gott. Zu den Fragwürdigkeiten gehört die Erklärung des Motivs der Inkarnation durch die Satisfaktionstheorie Anselms von Canterbury († 1109), als sei die Inkarnation die notwendig gewordene Antwort Gottes auf die Sünde der Menschheit.
Sowohl in der alten griechischen Theologie mit ihrer Auffassung von einer Vergöttlichung der Menschheit als auch in der mittelalterlichen Erhöhungs-Christologie stand ein anderes Motiv im Hintergrund.
Heutiges Nachdenken über die Inkarnation kann von der Offenheit des Geschöpfes Mensch für Gott ausgehen (Transzendenz), die sich aktualisiert als dauerndes, fragendes Verwiesensein des Erkennens und Wollens auf Gott, als Frage. Die Selbstmitteilung Gottes an den Menschen wäre eine mögliche freie und radikal höchste Antwort Gottes auf diese Frage. In diesem Zusammenhang besagt Inkarnation, dass Gott selber Frage und Fraglichkeit zu eigen angenommen hat und dass er darin sich selber zur Antwort gibt. Dabei wird, wie das Dogma von Chalkedon sagt, der Wesensunterschied von Göttlichem und Menschlichem nicht vermischt. „Dasjenige“ an Gott, was der Kreatur Mensch mitteilbar ist, wird als sein Wort in der Inkarnation und als sein Geist (Heiliger Geist) dem Menschen bleibend zu eigen mitgeteilt, ohne sich in es zu verwandeln. Vom Menschsein her gesehen könnte die Übereignung des Menschen Jesus an Gott, die den Menschen mit Gott eint, ohne dass er in Gott verwandelt würde, als Selbsttranszendenz gesehen werden.
Quelle: Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder