Liebe

Liebe ist die vom Willen gesteuerte, mehr oder weniger von vernünftiger Erkenntnis begleitete, stark vom Gefühl geprägte Beziehung (Zuneigung) zu einem Menschen oder – eher metaphorisch – auch zu einer „Sache“.

Die frühere Theologie unterschied in einem durchaus nicht wertenden Sinn die selbstlose Liebe des Menschen, der einer anderen Person nur Gutes will („wohlwollende Liebe“, „amor benevolentiae“), von der Liebe, die als Moment oder Mittel im Dienst einer berechtigten Selbstverwirklichung steht („begehrende Liebe“, „amor concupiscentiae“). Die Nächstenliebe („caritas“) wurde der erstgenannten Form zugerechnet. Der schwedische Theologe A. Nygren († 1978) wollte einen Wesensunterschied von „Eros“ im Sinn Platons († 347 v.Chr.) als Verlangen nach dem Vollkommenen, das dem Menschen als Schönheit erscheint, und „Agape“ als die ideale christliche, dienende, sich selber schenkende, ja aufopfernde Liebe („caritas“) erkennen. Im Licht gegenwärtiger humanwissenschaftlicher Erkenntnisse sind diese Unterscheidungen nicht haltbar. Liebe ist ein „Wesensvollzug“ des ganzen Menschen, an dem immer, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, alle Formen von Liebe Anteil haben. Eine vollkommen selbstlose Liebe gibt es nicht, da jedes bewusste Ausgehen von sich selber und jede Zuwendung zum anderen die Bejahung seiner selbst voraussetzt. Selbstliebe ist nicht einfach gleichzusetzen mit „Egoismus“. Rein gefühlsmäßiger Überschwang (Verliebtsein) ist nicht Liebe.

Zur Religionsgeschichte

Gegenüber den Versuchen, das Christentum als alleinige „Religion der Liebe“ darzustellen oder seine Absolutheit mit der nur bei ihm anzutreffenden Einheit von Vernunft und Liebe zu begründen, ist darauf hinzuweisen, dass neben dem Judentum, von dem das Christentum das Doppelgebot von Gottes- und Nächstenliebe erhielt, auch andere Religionen hohe Auffassungen von Liebe haben.

Im Hinduismus heißt der Weg der unmittelbar erfahrenen Gottesliebe durch bedingungslose Hingabe an Vishnu „bhakti“. Nur sie, nicht die theoretische Erkenntnis, gewährt Erlösung aus dem Geburtenkreislauf. In der Bhakti-Mystik wird sie als der Ursprung der universalen Menschheitsliebe interpretiert. Hierin ist das ethische Programm M. Gandhis († 1948) und anderer hinsichtlich des Gewaltverzichts und der umfassenden Nächstenliebe begründet.

Im Buddhismus umfasst „metta“, die Tugend der begierdelosen Güte, alle Menschen, ja alles Lebendige. Sie wird immer zusammen mit dem Mitleid („karuna“) zu allen Leidenden erwähnt. Aus beiden zusammen entstehen die Impulse zu praktischer Nächstenliebe und zu sozialem Engagement; beide zusammen ermöglichen die Überwindung der Aggressivität.

Im Islam wird die Einheit von Gottes- und Menschenliebe wenigstens von den Kreisen vertreten, die von der Sufi-Mystik beeinflusst sind. Es lässt sich auch nicht behaupten, im nichtreligiösen Humanismus und Atheismus werde Liebe nicht realisiert.

Biblisch

Die Beziehung Gottes zu seinem auserwählten Eigentumsvolk ist Liebe mit vielsagenden „anthropomorphen“ Komponenten: Barmherzigkeit, Leidenschaft, Eifersucht und einem seinen Zorn überwindenden Mitleid (Hos 11, 8 ff.); sie ist auch mütterliche Liebe (Jes 49, 14 f.). Mit vielen Zeugnissen bekennt das NT die grundlose Liebe Gottes zu der Menschheit und Welt, die er in der Hingabe des Sohnes unter Beweis stellte. Die Verkündigung Jesu stellt in konkreten Gleichnissen die Liebe Gottes unbegrifflich vor Augen (Lk 15, 11–32). Der Gott der Offenbarung ist „der Gott der Liebe und des Friedens“ (2 Kor 13, 11). Von der Liebesgemeinschaft zwischen Vater und Sohn, in die die Glaubenden und einander Liebenden einbezogen werden sollen, sprechen die johanneischen Abschiedsreden. Nach 1 Joh 4, 8 16 ist Gott „die Liebe“ (nicht „eros“ und „philia“ = Freundesliebe, sondern „agape“). Seine Liebe ist ausgegossen in die Herzen der Menschen (Röm 5, 5). Auch die Liebe Jesu Christi in seinem Leben und Sterben „anderen zugute“ wird weniger begrifflich definiert als konkret beschrieben. Die Liebe der Menschen zu Gott („Gottesliebe“) wird im AT und NT nicht mit gefühlsbetonten Begriffen, sondern mit dem Gehorsam gegenüber seinen Weisungen gekennzeichnet. Deren Inbegriff ist das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe (Dtn 6, 4 f.; Lev 19, 18; Mk 12, 28–34 par.). Bei Paulus und im johanneischen Schrifttum ist die Gottesliebe die (dankbare) Antwort der Menschen auf Jesus, sein Kreuz und sein offenbarendes Wirken. Die menschliche Liebe in allgemeiner Wertung und Charakterisierung ist Gegenstand des „hohen Liedes der Liebe“ 1 Kor 13. Im AT tritt sie in Gestalt der Nächstenliebe und der Fremdenliebe auf (Lev 19, 34; Dtn 10, 18 f.), bei Jesus als Feindesliebe radikalisiert (Bergpredigt). Erotische Liebe wird im AT unbefangen geschildert und dichterisch gepriesen (Hld), während das NT seine Aufmerksamkeit eher der Liebe in der Ehe zuwendet.

Systematisch

Die Dogmatik versteht unter Liebe den radikalen Wesensvollzug des Menschen, der den ganzen Menschen, so wie er von Gott gemeint und angerufen ist, auf Gott hin integriert und ihn so in die Gnade Gottes (Rechtfertigung) und in das Heil stellt. Er ist Entgegennahme der freien und restlosen Selbstmitteilung Gottes in der Kraft eben dieser Selbstmitteilung. Insofern diese sich in Gott hinein gebende Liebe von Gott frei mit dem Menschen mitgeschaffen ist, insofern sie in der innersten Intimität Gottes nur ankommen kann durch die zuvorkommende Selbstgabe Gottes an den Menschen, insofern sie – um der Liebe Gottes wirklich „kongenial“ entsprechen zu können – von der Liebe Gottes selber getragen werden muss und dabei immer auch eine Überwindung der schuldhaften Selbstsucht des Menschen durch Gott bedeutet, ist diese Liebe Gnade, „eingegossene Tugend“, mit der Rechtfertigung nach katholischer Lehre untrennbar verbunden. (Der Protest M. Luthers †1546 gegen die „Ergänzung“ des Glaubens durch die Liebe bezog sich nicht auf diese von der Gnade geschenkte Liebe, sondern gegen ein Verständnis der Liebe als „rein natürliche Kraft“.)

Weil sie der totale, alles integrierende Grundakt des Menschen ist, stellt sie einerseits das Ganze dessen dar, was als Heilstat vom Menschen verlangt ist, muss aber anderseits sich selber in die Vielheit der echt voneinander und von der Liebe verschiedenen geistigen Vollzüge auslegen: in Glaube, Hoffnung, Reue usw. Sie alle können von der Liebe durchformt, „informiert“ sein, sie können ihre konkrete Greifbarkeit darstellen, sie können Kriterien ihrer Echtheit und Weisen ihres Wachstums sein, ohne darum schlechthin identisch mit der Liebe zu sein. Als noch nicht von der Liebe durchformte Tugenden können sie ihr auch vorausgehen und ihren Vollzug vorbereiten. Bei allen Redeweisen von der Liebe Gottes ist zu beachten, dass auch der auf Gott angewandte Begriff Liebe ein analoger Begriff ist (Analogie), so dass die Liebe Gottes mehr Unähnlichkeit als Ähnlichkeit zur menschlichen Liebe aufweist. Daher darf von menschlicher Seite Gott nicht vorgeschrieben werden, wie seine Liebe zu sein hat (wichtig für die Theodizee, aber auch für die Trinitätstheologie, in der manchmal behauptet wird, eine Selbstliebe Gottes wäre „einsam“, Gottes Liebe müsse sich daher mit den beiden Polen Ich und Du und in einem gemeinsamen Wir vollziehen usw.).

Zu beachten ist ferner, dass die Liebe zu Gott und die Liebe zu (einem) Menschen nicht in Konkurrenz zu einander stehen. Die Vorstellung, Freiheit von menschlicher Liebe bedeute größere Verfügbarkeit für Gott und darum größere Liebe zu ihm, ist ein ideologisches Konstrukt. Eine wirklich vorbehaltlose Liebe zu Menschen, die einen anderen „über alles“ schätzt und ihn „absolut“ bejaht, stellt implizit eine Bejahung Gottes als des Grundes aller Liebe dar. Identisch damit ist das theologische Verständnis der Selbstliebe (im Unterschied zu der vermeintlich selbstlosen ekstatischen Gottesliebe von Augustinus †430 an über die Franziskanertheologie bis zum Quietismus) in ihrem Verhältnis zur Gottesliebe, das als nicht-konkurrierende Einheit verstanden wird. Die neuere theologische Ethik untersucht, inwiefern die Konzentration auf individuelle Liebesvollzüge die Aufmerksamkeit für soziale, strukturelle Bedingungen vermindert, die Menschen daran hindern, sich einen „Begriff“ von Liebe zu machen.

Quelle: Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder

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