Was ist Nächstenliebe?
Nächstenliebe ist die aus der Gottesliebe genährte und an der Selbstliebe orientierte Zuwendung zum Mitmenschen. Nach dem Neuen Testament bekräftigt Jesus Christus dieses alttestamentliche Gebot und verleiht ihm gleichzeitig eine entscheidende Neubestimmung, indem er die Nächsten- zur Feindesliebe erweitert.
Im sogenannten Doppelgebot der Liebe des Matthäus-Evangeliums wird die Nächstenliebe in unmittelbaren Zusammenhang zur Gottesliebe gestellt und mit ihm zusammen als das höchste aller Gebote vorgestellt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Vernunft. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Das Zweite ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängen das ganze Gesetz und die Propheten.“ (Mt 22,37‑40) Auffallend ist hierbei die Erwähnung der Selbstliebe als Maßstab für die Nächstenliebe. Eingebunden sind wiederum beide in die gleichrangige aber zuerst genannte Gottesliebe. Es handelt sich also um ein untrennbares Beziehungsgefüge aus Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe, in der alle drei Formen der Liebe ihren besonderen Ort und ihre einzigartige, unersetzliche Würde besitzen. Karl Rahner sieht in der Nächstenliebe gar die primäre Realisierungsform der Gottesliebe.
Nächstenliebe in der Bibel
Das Gebot der Nächstenliebe hat seine Wurzeln in dem alttestamentlichen Buch Levitikus: „Sei nicht rachsüchtig noch trag deinem Stammesgenossen etwas nach, sondern liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Ich bin der Herr.“ (Lev 19,18).
Im Neuen Testament wird neben vielen anderen auch dieses zentrale christliche Gebot aufgenommen und bekräftigt. Am eindrücklichsten geschieht dies wohl im berühmten Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25‑37). Mit ihm antwortet Jesus auf die Frage eines Gesetzeslehrers, wer denn überhaupt sein Nächster sei. Die Pointe des Gleichnisses liegt deshalb darin, die Stellung der beteiligten Personen zueinander als für den Akt der Nächstenliebe irrelevant zu erklären. Der Nächste – so lehrt es Jesus mit diesem Gleichnis – ist nicht eine durch ein besonderes Näheverhältnis in Bezug auf Herkunft oder Religion ausgezeichnete Person, sondern schlicht die Person, die sich innerhalb der Reichweite einer potenziellen Liebestat aufhält. Nicht das Nächste(r)sein qualifiziert für die liebevolle Zuwendung, sondern im Akt der bedingungslosen Zuwendung erweist sich der/die Bedürftige als Nächste(r).
Paulus wiederum nimmt am Schluss seines Briefes an die Römer den Gedanken der Nächstenliebe als Summe aller Gebote auf: „Bleibt niemand etwas schuldig, sondern liebt einander. Denn wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt. Die Gebote: Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren! und was es sonst noch an Geboten gibt, werden ja in diesem einen Wort zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Die Liebe fügt dem Nächsten nichts Böses zu. So ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes.“ (Röm 13,8‑10).
Nächstenliebe gestern und heute
Das Gebot der Nächstenliebe hat seinen Ursprung in einer Gesellschaftsform, die sich grundlegend vom modernen Sozialstaat westlicher Industrieländer unterscheidet. Die unbestreitbaren Vorzüge staatlich regulierter Armenfürsorge sind auch eine Frucht christlicher Ethik, entheben den Akt der Nächstenliebe aber unweigerlich seiner persönlichen Ebene.
Vor diesem Hintergrund bieten die biblischen Einforderungen der Nächstenliebe einen positiven Anstoß für heutige Leser(innen), die es gewohnt sind, das Geschäft der Nächstenliebe vorrangig als eine delegierbare, gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu betrachten. Insbesondere das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ruft in Erinnerung, dass es bei der Nächstenliebe zuerst darum geht, sich persönlich betroffen sein zu lassen vom Leid des andern und sich für das Wohl des Nächsten zuständig zu wissen. Der bekannte Neutestamentler Thomas Söding charakterisiert die Nächstenliebe daher mit den Worten: „Sie zielt auf eine Ethik der Nähe, der Verbindlichkeit und Nachhaltigkeit, der persönlichen Kontakte und der engen Beziehungen. Die Nächstenliebe fordert eine Ethik auf Sichtweite.“
Im Zeitalter der globalen Migrationsströme treffen Menschen aus verschiedenen Gesellschaftssystemen mit ihren unterschiedlichen Fürsorgeregelungen unvermittelt aufeinander. Der Journalist Michael Rutz versammelt in dem von ihm herausgegebenen Band Warum solidarisch? Zwischen Egoismus und Nächstenliebe verschiedene Expertenstimmen zur Solidarität im Kontext von Migration. Die Beiträge entstammen soziologischen, theologischen, ökonomischen und politischen Frageperspektiven und berücksichtigen die europäische und die globale Ebene.
Aufgrund seines hohen Anspruchs bleibt das Gebot der Nächstenliebe auch unabhängig von den sich wandelnden gesellschaftlichen Veränderungen für die christliche Frömmigkeitspraxis wie für die sie reflektierende Theologie eine offene Aufgabe.
Eine zusätzliche Herausforderung erwächst der Theologie derzeit vonseiten der Soziobiologie. Sie unternimmt den Versuch menschliches Sozialverhalten aus den Mechanismen der Evolution heraus zu erklären. Für die Herder Korrespondenz beleuchtet Axel Heinrich in seinem Aufsatz Ist Nächstenliebe eine Frage der Gene? die Anschlussfähigkeit dieses Zugangs für die Theologie mit ihrem gänzlich verschiedenen Zugang zu Moral und Ethik.
Veronika Hoffmann stellt ihre theologische Bearbeitung der Nächstenliebe in ihrem Verhältnis zur Gottesliebe in den Kontext einer von ihr skizzierten Theologie der Gabe.
Nächstenliebe in Christentum und Islam
Thomas Söding erläutert den Stellenwert der Nächstenliebe für das Christentum in seiner gleichlautenden Monographie zur christlichen Ethik mit den Worten: „Das frühe Christentum sieht sich als eine Religion, für die Nächstenliebe ein Erkennungszeichen ist, ein Grund, Mission zu treiben, und ein Auftrag, die Welt zu verändern.“ Er betont aber auch, dass das Christentum kein Monopol auf die Nächstenliebe hat.
So bildet etwa im Islam die Zakât, die Pflicht zu solidarischem Handeln, eine der fünf Säulen, die das religiöse Leben eines Muslims prägen. Die Zakât ist dabei keine Frage individueller Entscheidung, sondern hat Rechtscharakter. Eine berühmte islamische Prophetentradition bemerkt zur Nächstenliebe: „Wer zu Bett geht und weiß, dass sein Nachbar hungert, ist kein Muslim.“ Eine kenntnisreiche Einführung zum Stellenwert der Nächstenliebe im Islam bietet Peter Heine in einem Aufsatz für die Herder Korrespondenz.
Für den in Saudi-Arabien aufgewachsenen Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide ist die Barmherzigkeit der Schlüsselbegriff zum Verständnis des Islam. Mit seinem nicht unumstrittenen Buch Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion, welches 2018 bereits in einer zweiten, erweiterten Auflage erschienen ist, demonstriert der frühere Imam eine humanistische Koranhermeneutik und plädiert für einen Gottesdienst als Dienst am Menschen.
Auch im Christentum gilt die Barmherzigkeit als eine der wesentlichen Eigenschaften Gottes.
Mit dem Buch Gott ist barmherzig. Die wichtigste Botschaft des Heiligen Vaters zeigt Simon Biallowons anhand ausgewählter Texte von Papst Franziskus wie sehr der Begriff der Barmherzigkeit das Pontifikat dieses Bischofs von Rom prägt.
Das spirituell und theologisch inspirierte Lesebuch Barmherzigkeit leben. Eine Neuentdeckung der christlichen Berufung sieht den Stellenwert der Barmherzigkeit im Leben eines Christen ebenfalls im Gottesbild begründet. In seinem Beitrag Theologie der Barmherzigkeit. Ein christlich-islamisches Gespräch lotet Felix Körner darin die Leistungsfähigkeit dieses Begriffs für den Dialog der Religionen aus.
Margot Käßmann über Nächstenliebe
"Jesus hat die Zehn Gebote zusammengefasst im höchsten Gebot: „Du sollst Gott über alle Dinge lieben und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Das gibt ein großartiges Verantwortungsdreieck für „Gutmenschen“ vor, finde ich. Gott über alle Dinge lieben bedeutet ja, ich verantworte mein Leben vor Gott. Da kann ich nichts verbergen, nicht schummeln, nicht vertuschen. Und damit meine ich nicht einen drohenden Donnergott. Viel eher zeigt dieses Gottesverständnis die Geschichte von einem Pfarrer, der einen wunderbaren Apfelbaum hat. Ständig klauen Kinder die schönsten Äpfel und er rammt ein Schild in den Boden: „Gott sieht alles!“ Die Kinder schreiben darunter: „Aber Gott petzt nicht!“ Solches Gottvertrauen meinte Luther: Ich verantworte mich vor Gott, aber Gott verurteilt mich nicht, sondern zeigt mir Wege ins Leben.
Den Nächsten lieben, das hört sich so betulich an. Ist ja auch leicht, die zu mögen, die uns sympathisch sind. Aber die unsympathischen, die mit einer anderen Meinung, die aus einer anderen Konfession oder auch Partei – ihnen mit Respekt begegnen, ihnen Würde zusprechen, das ist eine ständige Herausforderung, wenn wir „gut“ leben wollen.
Und dann können wir auch uns selbst lieben. Wenn Gott uns schon liebt mit all unseren Fehlern, dann können auch wir uns annehmen, selbst wenn wir an unseren eigenen Ansprüchen oder denen der Welt scheitern."
Quelle: Mitten im Leben 12/2020