Naherwartung

Naherwartung wird im Hinblick auf neutestamentliche Aussagen in zweifacher Bedeutung verwendet.

1) Die Naherwartung Jesu bezog sich auf die alsbaldige, von der Sammlung ganz Israels ausgehende, universale Verwirklichung der endzeitlichen Herrschaft Gottes (Mk 1, 15; 9, 1; 14, 25; Mt 10, 23). Diese Naherwartung führt zu der theologischen Frage, ob Jesus sich geirrt habe, oder ob seine Naherwartung eher eine feste Hoffnung war, die an menschlichen Verweigerungen scheiterte (Wissen und Bewusstsein Jesu).

2) Die Naherwartung der Urgemeinde galt der Parusie (des Menschensohnes bzw. des Kyrios Jesus, nicht sachgerecht als „Wiederkommen“ Jesu übersetzt) in irdisch absehbarer, sehr kurzer Zeit. Am Ursprung dieser Erwartung stand sicher die Überzeugung der Urgemeinde, mit dem Tod und der Auferweckung Jesu habe Gott sich der Welt und der Menschheit unwiderruflich zugesagt, so dass nach diesem Geschehen eine wesentlich neue Heilszeit nicht mehr zu erwarten sei (im Doppelwerk des Lukas Lk und Apg, das eine Zeit der Kirche vorsieht, ist diese Naherwartung nicht mehr gegeben). Was „nur noch“ ausstehe, sei das völlige Offenbarwerden dieses eschatologischen Heils.

Eine theologische Erklärung dieser Naherwartung besagt, dass angesichts der Gewissheit des schon Geschehenen der irdisch-zeitliche Abstand zu seinem vollendeten Erscheinen als unerheblich „verkürzt“ wahrgenommen worden sei. Mit Hinweisen auf das Nichtwissen der „Stunde“ (Mk 13, 32; Apg 1, 7) oder ein Verzögern des Endes durch die Langmut Gottes (2 Petr 3, 8–10) verlegt bereits das NT das Problem der Naherwartung in das Geheimnis Gottes.

Das Anstößige an der Enttäuschung der Naherwartung wird, je weiter die Geschichte fortschreitet, vergrößert durch das Zurücktreten des drängenden Themas der Herrschaft Gottes hinter dem Wirken der immer stärker institutionalisierten Kirche. Ein Gegengewicht könnte das Bedenken der unwiderruflichen Selbstmitteilung Gottes in seinem Heiligen Geist sein, die sich unaufhaltsam „schon jetzt“ ereignet. Eine individuelle Gestalt der Naherwartung ist diejenige des eigenen Todes.

Quelle: Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder

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