Die Erzählungen vom Paradies werden von der heutigen Exegese als „Kulturätiologie“ aufgefasst, weil ein ausgegrenztes Stück Lebensraum in der Schilderung eines Mischgebildes aus Natur und Kultur ein Gegenmodell darstellen soll zu den Erfahrungen von Niedergang und Zerstörung in der realen Welt (Ätiologie). Bereits die Verarbeitung des Paradies-Motivs im AT lässt erkennen, dass der Idealvorstellung des von Gott gesetzten Anfangs eine Vollendungshoffnung am Ende entspricht (Jes 51, 3; 60, 13; das „himmlische Jerusalem“ der Apokalyptik). In diesem Sinn spricht das NT dreimal vom Paradies als dem überirdisch verborgenen Ort der Geretteten vor der allgemeinen Totenauferstehung (Lk 23, 43; 2 Kor 12, 4; Offb 2, 7).
In der christlichen Dogmatik, die bis ins 20. Jahrhundert die Erzählungen vom Paradies als historische Berichte einer real geschehenen Urgeschichte auffasste, wurde das Paradies gelegentlich als selbstverständliche Umwelt der beiden ersterschaffenen Menschen in ihrem „Urstand der Heiligkeit und Gerechtigkeit“ erwähnt. Im Zusammenhang mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und der Evolutionshypothese, die auf einen wenig paradiesischen Anfang der Menschheitsgeschichte schließen lassen, bleibt festzuhalten, dass sich die kirchliche Lehre nie ausdrücklich mit dem Paradies, seiner Geographie und seinem Zustand beschäftigt hat.
In der Symbolsprache der Mystik, in der Dichtung und in der darstellenden Kunst spielte das Paradies eine große Rolle (wenige Beispiele: Liebesgärtlein, „hortus conclusus“, Paradiso bei Dante †1321, „Paradiese“ als Vorhallen von Kirchen, Bilder bei M. Chagall †1985 u. S. Dalí †1989).
Quelle: Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder