Sünde in diesem vollen Sinn ist nach kath. Sprachgebrauch „schwere Sünde“ oder (von Joh 8, 21 und 1 Joh 5, 16 f. aus) „Todsünde“. Sie kann in Gedanken oder im Tun begangen werden. Begrifflich wird Sünde oft gleichbedeutend mit Schuld verwendet; es wäre im Interesse begrifflicher Klarheit, Sünde für den Akt selber und Schuld für die daraus resultierende „Schuldverhaftung“ vor Gott und den Menschen zu reservieren.
Biblische Aussagen
Die das Sündigen betreffenden Texte und mannigfaltigen Sündenbegriffe des AT setzen Kenntnis der Weisungen Gottes, Bewusstsein, Vorsätzlichkeit und damit Verantwortung voraus. Ihrem Wesen nach besteht die Sünde in der Verweigerung der Gottes- und Nächstenliebe in ihrer Einheit oder in gegen sie gerichteten Handlungen. Als Hauptsünde gegen Gott erscheint die Verehrung fremder Götter, die als Bundesbruch gilt oder metaphorisch als Ehebruch bezeichnet wird (Tora, Dekalog). Die Überzeugung, dass jeder Mensch von seiner Geburt an ein Sünder ist (Ps 51, 7), teilt Israel mit der altorientalischen Umwelt, weil das gesamte Leben von einem Netz unzähliger Normen überzogen ist. Die gesellschaftliche Dimension wird so stark betont, dass von der Sünde des einzelnen Menschen nicht nur dieser unheilvoll betroffen ist, sondern auch seine Gemeinschaft. Gelegentlich begegnet die Auffassung, unbewusste Sünden seien möglich (Lev 4, 2 22 u. ö.). Innerweltliche Schicksalsschläge und politische Katastrophen gelten als unmittelbar von Gott herbeigeführte Strafen für Sünden, doch bleibt Gott unter allen Umständen zur Vergebung bereit (Buße), für die in der Reue, in der Liturgie und in der Fürbitte konkrete Wege eröffnet sind. Im NT begegnet bei Paulus die Unterscheidung „der Sünde“ (griechisch „hamartia „) von der Sündentat (griechisch meist „parabasis“). „Die Sünde“ wird, ebenso im Joh-Ev., als Macht personifiziert, die über die Menschen herrscht und sie in ihrem Innern negativ qualifiziert (Röm 5, 12–21 u. ö.). Konkreter Ort der Sünde ist die Sarx; sie herrscht durch den Tod. Ein Sünder kann seine Unheilssituation nicht erkennen (Röm 7, 15), wohl aber seine Tatsünden. Die Befreiung von „der Sünde geschah und geschieht aus reiner Gnade, indem Gott dem Sünder die Rechtfertigung, die Gerechtigkeit Gottes schenkt. Ein Vorkommen gehäufter Sünden von Glaubenden und Getauften zieht Paulus nicht in Betracht. Die Lasterkataloge sehen den Abbruch der Gemeindebeziehungen mit „schweren“ öffentlichen Sündern vor. Jesus wusste sich gesandt, nicht die Gerechten zu rufen, sondern die Sünder (Mk 2, 17). Er verkündete den ohne weitere Vorbedingungen, auch ohne die Vorbedingung seines eigenen blutigen Todes, erbarmungsvollen Vater (Lk 15, 11–32), wobei der Sünder allerdings Einsicht in sein verkehrtes Tun hat, umkehrt und vor dem Vater das Bekenntnis ablegt. Als (schwere) Sünde wird die Nicht-Annahme der Herrschaft Gottes verstanden. Die Bergpredigt zeigt die Konzentration der Gottesweisungen auf die Einheit von Gottes- und Menschenliebe. Jesus bekämpfte die Vorstellung von der Sündhaftigkeit der kultischen Unreinheit. Die „unvergebbare“ Sünde (Mk 3, 29 par.) visiert (ebenso wie Hebr 6, 4 ff.; 10, 26–29; 12, 16 f.) eine paradoxe, psychologisch undenkbare Erkenntnissituation an und gehört zu den radikalen Drohworten, die den Ernst einer gegenwärtigen Entscheidungssituation hervorheben wollen. Nach Joh (vor allem Kap. 8 und 9) besteht „die Sünde“ im Unglauben.
Zur theologischen Tradition
Im Zusammenhang mit der nicht eingetretenen Parusie wird die Beschäftigung mit faktisch eingetretenen Sünden für die alte Kirche immer dringlicher. Zunächst ist die Unterscheidung von öffentlichen und geheimen Sünden wichtig; den ersteren gelten das Bußverfahren und die Anfänge der Theologie des Bußsakraments und der Genugtuung. Als Hauptsünden werden Mord, Götzendienst und Ehebruch angesehen (wobei letzterer auch Metapher für Götzendienst sein kann und in Verfolgungszeiten die Einwilligung in den Kaiserkult als Götzendienst gilt). Schon früh setzen im kirchlichen Westen und vor allem im Osten die Bemühungen um „Seelenführung“ ein (Kampf gegen Versuchungen durch Askese, Wachen und Beten). Die biblischen Aussagen über „die Sünde“ und ihre Macht werden von Augustinus († 430) in die Theorie der Erbsünde eingebracht, verbunden mit einem Verständnis der Begierde, die unentwegt zum Sündigen verführe. Zu seiner Sündentheologie gehören die Beschreibung der Tat-Sünde als „Abkehr von Gott“ und „Hinwendung zur Kreatur“ („aversio a Deo“, „conversio ad creaturam“) und ihre neuplatonische Einordnung als „Mangel an Gutem“. Zu den großen Erkenntnissen der scholastischen Theologie gehörte die Einsicht, dass es unbewusste und unfreiwillige Sünden nicht gibt (Peter Abaelard †1142). Bei Thomas von Aquin († 1274), der die Sünden im Zusammenhang mit den Tugenden behandelt, werden die „Todsünden“ („peccata mortalia“) als Verlust der Heiligmachenden Gnade, der mit der ewigen Verdammung geahndet werde, von den „lässlichen“ Sünden („peccata venialia“) theologisch scharf geschieden. Die Sündenauffassung M. Luthers († 1546) ist stark von Augustinus abhängig, doch nimmt sie ihren Ausgang nicht von der Ursünde, sondern von der Rechtfertigung. Im Unterschied zur römisch-katholischen Auffassung, die den Sündenakten und -arten zugewandt war, befasste sich Luther nicht primär mit den einzelnen Todsünden, sondern mit der den ganzen Menschen prägenden, den freien Willen auslöschenden Sündigkeit, die zunächst nicht moralisches Versagen, sondern personaler Unglaube aus „ererbter“ Selbstsucht und Ichperversion ist (Simul iustus et peccator). Das Konzil von Trient äußerte sich außer zu Erbsünde, Begierde und Willensfreiheit auch zur Unterscheidung von Todsünden (wobei nicht jede Todsünde Glaubensverlust sei) und lässlichen Sünden. Ferner lehrte es, dass der gerechtfertigte Mensch mit Hilfe der Gnade Gottes imstand sei, die Todsünde zu meiden. Der seit dem Mittelalter dominierenden Individualisierung des Sündenbewusstseins wirkt die Entdeckung der „sozialen Sünde“ oder „strukturellen Sünde“ durch die Befreiungstheologie entgegen.
Aktuelle Fragen
Die aus der Redeweise von „der Sünde“ bei Paulus und Johannes stammende Auffassung von der – vor jeder Tatsünde bestehenden – Sündigkeit des Menschen vor Gott, der „verkehrten Existenz“ usw., lässt sich darum schwer vermitteln, weil diese Sündigkeit, wie wenigstens S. Kierkegaard († 1855) und K. Barth († 1968) meinten, nur aus dem Glauben erkannt werden kann. Auf welche Erfahrungen kann sich eine auf Sündigkeit bezogene Glaubenspredigt beziehen? Der Hinweis auf ungeschuldet zuteil gewordene Rechtfertigung bzw. Erlösung überzeugt denjenigen kaum, der nicht weiß, wovon er gerechtfertigt bzw. erlöst ist. Die katholische Definition der Todsünde spricht von einem klar und eindeutig erkannten Willen Gottes als der obersten Norm ethischen Verhaltens. Die Zweifel am Bestehen einer Todsünde oder gar an deren häufigem Vorkommen (wie das die übliche Beichtunterweisung nahelegt) entstehen zum Teil aus mangelhafter Erkenntnis oder aus fehlerhafter und ungenügender Begründung einer bestehenden Norm. Schwer begründbar ist der engste Zusammenhang zwischen dem in seiner Existenz unter Umständen respektierten oder bejahten Willen Gottes und dem „Material“ aus der pluralen Wertewelt, an dem dieser Wille und dem entsprechend auch das Nein gegen ihn konkret „realisiert“ werden; die in der Tradition bezeichneten „Materialien“ entstammen, wie schon die Übernahme stoischen Gedankenguts in die Tugend- und Lasterlehre zeigt, häufig demjenigen, was in einer bestimmten Zeit und Gesellschaft als öffentliche Norm gilt. Bei einer Mehrzahl von Gedanken- oder Tatsünden wird verneint, dass es sich um einen „Bruch mit Gott“ handelt. Apodiktische Behauptungen wie diejenige, eine Handlung sei „in sich“ schlecht, ersetzen eine Begründung nicht; ebenso wenig sinnwidrige Begriffsbildungen wie „Stand der objektiven Sünde“. Das Theodizee- Problem wirft die ernstzunehmende Frage auf, ob der Gott der christlichen Tradition selber ethischen Kategorien standhalten kann.
Quelle: Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder