Erstaunen und Erschrecken in der Begegnung mit dem Heiligen ist kein Wunder Ein Wunder ist auch nicht etwas, was für alle einsichtig auf der Erfahrungsebene stattgefunden hat, auf evidente Eingriffe Gottes (oder bestimmter Heiliger) in Naturabläufe und Biographien zurückzuführen ist und Gottes souveränes Ausnahmehandeln durch sich selber oder durch Bevollmächtige demonstriert, wie der religiöse Fundamentalismus will. Heutige Mentalität schwankt im Hinblick auf die Möglichkeit (und Faktizität) von Wundern zwischen völliger Skepsis (Wunder als das bloß noch nicht Erklärbare, als Produkt von Autosuggestion, Hypnose, nicht allgemein instrumentalisierbaren psychischen Energien, als von bestimmten Interessen diktierte literarische Fiktionen, wie sie von der kritischen Bibelexegese manchmal identifiziert werden) und barer Leichtgläubigkeit im Zeichen der Esoterik.
Eine Annäherung an ein spezifisch christliches Wunderverständnis könnte von folgender Erwägung ausgehen: Im Menschen ist eine „Tiefe“ seines Daseins gegeben, die seine ganze Erfahrungswelt ständig begleitet und zugleich übersteigt. Diese „Tiefe“ kann auch durch die Überlegung verdeutlicht werden, dass der Mensch in seiner geistgeprägten Natur innerlich eigentümlich erschlossen und offen ist für das „Jenseits“ seiner Erfahrungswelt. Ausgeführte Gedankengänge dazu bieten die Philosophien des Geistes und der Transzendenz. In schlichten poetischen Worten ausgesprochen: Der Mensch lebt in bleibender Nachbarschaft zu Gott, er rührt unentwegt an das unbegreifliche göttliche Geheimnis. Diese „Gegebenheit“ wird allerdings von innerweltlichen Verfestigungen überdeckt und aus dem Bewusstsein verdrängt, so dass ein Mensch – theologisch und religiös gesprochen: unter dem Antrieb des ihm innewohnenden Heiligen Geistes – sich immer neu „öffnen“ muss auf die eigentliche Weite und Tiefe seines Daseins hin, sich die Fragwürdigkeit seiner bloß endlichen Horizonte bewusst machen, sich aufmerksam für Gott machen muss. So in empfänglicher Verwunderung wachgeworden, kann er (nicht muss er) nach einer verantwortlichen Prüfung unerklärliche Ereignisse in seiner Erfahrungswelt als von Gott beabsichtigt und veranlasst, als „Fügungen“ Gottes annehmen. Sie stellen für ihn dann einen jeweils neuen Anruf Gottes dar, sich dialogisch mit ihm einzulassen. Damit ist gesagt: Die Voraussetzung dafür, ein Wunderwirken Gottes zu akzeptieren, ist die so umschriebene fundamentale, sich öffnende Gläubigkeit eines Menschen.
Innerhalb der vielen Erzählungen von Wundern in AT und NT (die hier nicht registriert werden können und müssen) wird zuweilen auch sehr deutlich von dieser Gläubigkeit als Voraussetzung für das Wunder gesprochen (vgl. Mk 5, 34; Lk 18, 42 u. ö.). Das bedeutet aber auch, dass die Gewissheit von der Existenz eines Wunders nur im Glaubenssinn individueller menschlicher Subjektivität gegeben sein kann. Es gibt keinen objektiven Beweis für das tatsächliche Ereignis eines Wunders. Offizielle „Anerkennungen“ eines Wunders können nur bedeuten, dass der das Wunder anerkennenden Instanz Kriterien zur „natürlichen“ Erklärung eines Vorkommnisses fehlen. Damit ist die Glaubenslehre des I. Vaticanums von 1870, dass Wunder grundsätzlich möglich und erkennbar sind, nicht in Frage gestellt. Theologisch gesehen ist das Wunder damit nicht eine ungesetzmäßige, willkürliche Demonstration der Allmacht Gottes, sondern es gehört in den Prozess der gnädig-freien Selbstmitteilung Gottes an die Subjektivität des einzelnen Menschen hinein, den es von der vorbereitenden Gläubigkeit zu immer ausdrücklicherem, vertieften Glauben führen will.
Für den christlichen Glauben ist das alles entscheidende Wunder in der Auferweckung Jesu von den Toten gegeben, die nicht als Vorgang, aber in der Wahrnehmung des Lebendigen von vielen Zeugen bestätigt wurde. In diesem Wunder hat Gott seine endzeitliche Macht zur Vollendung der Menschheit und der Schöpfung verheißend bekräftigt.
Quelle: Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder