Die Auserwählung Israels zum Volk Gottes steht im Dienst der Rettung der „Völker“ (Sach 2, 14 f.; Jes 49, 6). Die Heilszusage gilt nicht nur einem elitären „Rest“, sondern „ganz Israel“ (Röm 11, 25 f.).
Im NT wird Jesus Christus als „Licht zur Erleuchtung der Völker“ und als „Herrlichkeit seines (!) Volkes Israel“ gepriesen (Lk 2, 30 ff.). Ohne polemische Absichten, ohne Israel sein Privileg der Erstberufung abzusprechen, bezeichnet 1 Petr 2, 9 f. die Christen als Volk Gottes und als Gottes Eigentumsvolk. Nirgendwo im NT heißen die Christen das „neue Volk Gottes“ im Gegensatz zum „alten“. Die antisemitische Entgegensetzung beider unter diesen Begriffen begegnet erst im Barnabasbrief (5, 7; 7, 5; 13, 1) um 130 n.Chr. Fortan wurde der Begriff Volk Gottes von der Kirche in beiden Perspektiven in Anspruch genommen, affirmativ ohne antijüdische Tendenz und polemisch im Sinn einer Ablösung des alten Volkes Gottes durch ein neues. Freilich trat der Begriff Volk Gottes gegenüber andern Bezeichnungen und Metaphern für die Kirche eher in den Hintergrund.
Das II. Vaticanum erachtete es als glücklichen Gedanken, die Gemeinsamkeit aller Glaubenden ungeachtet der hierarchischen Unterschiede durch den Begriff Volk Gottes zum Ausdruck zu bringen; so ist in LG das Kap. II „Das Volk Gottes“ den weiteren Kapiteln über die hierarchische Verfassung der Kirche und über Laien und Ordensleute vorangestellt. Im Begriff Volk Gottes fand man außer der grundlegenden Gemeinsamkeit aller Glaubenden auch den „Pilgercharakter“ der Kirche ausgesprochen. Bei allen positiven Aussagen des II. Vaticanums über das Judentum und über das Fortbestehen seiner Erwählung wird mit der Formulierung „neues Volk Gottes“ (LG 9 und ö.) doch unglücklicherweise die Beerbung Israels nahegelegt (so auch im „Personenrecht“ des Kirchenrechts von 1983). Auch die fatale Formulierung „Volk Gottes im neuen Bund“ hat sich, ohne Bewusstsein für Wirkung und Folgen, nach dem Konzil weit verbreitet.
Es bleibt nur zu betonen, dass es nur ein von Gott selber erwähltes Eigentumsvolk gibt, das der Juden, und zwar nicht nur der gläubigen Juden, und dass die Anwendung von Volk Gottes auf die Kirche eine in jedem Fall interpretationsbedürftige Metapher ist.
Quelle: Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder