Der Name ist Programm: Denn "Christ in der Gegenwart" will seit 70 Jahren in aktuellen Debatten von Politik, Gesellschaft und Wissenschaft Orientierung geben. Zum Jubiläum lud die im badischen Freiburg erscheinende Wochenzeitschrift ihre Leser zu einem Kongress ins sächsische Dresden. Dort ging es am Wochenende um "Mut zur Religion in der modernen Gesellschaft".
Das Leitwort der Tagung deutete an, dass sich die Lage der Kirche seit 1948 entscheidend geändert hat. Damals hatten Christen es in manchem leichter als heute. Zwar waren die Zeiten hart. Die Not der Nachkriegsjahre erforderte einen täglichen Kampf ums Überleben. Doch aus der Zeit des Nationalsozialismus kam die Kirche wegen ihrer widerständigen Haltung gestärkt hervor.
Bis in die 1960er Jahre war sie eine moralische Instanz, die viele Politiker auch heute in Anspruch nehmen möchten. So appellierte der Chef der Sächsischen Staatskanzlei, Oliver Schenk (CDU), auf dem Kongress an seine 400 Zuhörer, sich "laut und deutlich" in den gegenwärtigen Streitthemen zu Wort zu melden. Dabei sollten sie "aus dem Glauben heraus argumentieren", riet der Staatsminister. Sie dürften ethische Fragen etwa der Zuwanderung und Digitalisierung nicht anderen überlassen.
Kirchliche Stimmen finden indes immer weniger Gehör, wie Michael Seewald darlegte. Früher hätten viele Menschen lehramtliche oder theologische Positionen zumindest als "möglicherweise relevant" beachtet, betonte der Münsteraner Dogmatiker. "Heute ist das nicht mehr der Fall."
Mitverantwortlich dafür machte er eine "katholische Lehrarchitektur", die alle Fragen des Lebens detailliert regelt. "Je fragwürdiger der Naturbegriff außerhalb kirchlicher Mauern geworden ist, desto genauer scheint die Kirche zu wissen, was die Natur des Menschen genau ausmacht, was ihr entspricht und vor allem, was ihr widerspricht - in sozialer, politischer, sexueller und religiöser Hinsicht".
Die Folge sei eine Auswanderungsbewegung, "der man in dogmatischer Hinsicht bisher völlig tatenlos, vielleicht auch hilflos zusieht", so Seewald. Er riet, es mehr "der Vernunft des Einzelnen zu überlassen", die christliche Botschaft in ihrem Lebensumfeld zu konkretisieren. Auch innerhalb der einen Kirche könne es "eine Vielfalt weltanschaulicher Positionen" geben. Seewald plädierte dafür, "sich auf das Wenige zu beschränken, was Daseinsberechtigung und Ziel kirchlichen Lebens ist: jene Hoffnung glaubwürdig zu vermitteln, die Christus gestiftet hat".
Auch Gotthard Fuchs konstatierte einen Epochenwandel. Die heutige Gestalt der Kirche müsse sterben, um neu geboren zu werden, erläuterte der Wiesbadener Theologe und Pädagoge in der Begrifflichkeit der Mystik. So sei die Botschaft von der Gegenwart Gottes aus einer "eng gewordenen Umklammerung der Kirche" zu befreien. Möglich werde dies jedoch nicht in Form einer "erlebnissüchtigen Spiritualität, die auf eine perfektionistische Selbstoptimierung ausgerichtet ist". Christliche Spiritualität müsse sich auch dem Leid stellen und dürfe es nicht "schönreden".
Eine Grundhaltung des Vertrauens auf die christliche Botschaft ohne Bedingungen falle heute besonders schwer, sagte Barbara Zehnpfennig. "Wir sind so darauf geeicht, im Grunde alles alleine erkämpfen zu müssen, uns auf niemanden hundertprozentig verlassen zu können, dass uns solch vorbehaltloses Vertrauen geradezu naiv erscheint", meinte die Passauer Politikwissenschaftlerin.
Ganz praktische Empfehlungen gab Heinrich Timmerevers. Der Bischof des Bistums Dresden-Meißen schlug vor, Menschen, die sich keiner Religionsgemeinschaft zugehörig fühlen, nicht mehr als bekenntnislos, sondern als bekenntnisoffen zu bezeichnen und auch so zu begegnen. Auch solle die Kirche ihre Kindertagesstätten, Schulen oder Pflegeheime stärker als Orte verstehen, in denen Nichtchristen mit gelebtem Glauben "in Berührung kommen" könnten. In dieser Hinsicht hat Timmerevers nach eigenem Bekunden auch selbst "im Osten" viel gelernt, als er vor zwei Jahren aus dem katholisch geprägten Oldenburger Land ins kirchenferne Sachsen kam.