Die Kirche setzt bis heute vor allem auf Autorität und fordert Gehorsam von den Gläubigen. Damit hat sie Missbrauch – geistlichen wie sexuellen - in vielen Fällen erst möglich gemacht, erklärte der Freiburger Fundamentaltheologe Magnus Striet bei einer Podiumsdiskussion zum Thema „Geistlicher Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt“. Die wissenschaftliche Theologie habe heute einen modernen Freiheitsbegriff ins Zentrum ihres Nachdenkens gestellt und erkenne das Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen an. Dieser Sichtweise sei die Kirche jedoch weitgehend nicht gefolgt.
Das Zweite Vatikanische Konzil brachte in den sechziger Jahren zwar eine gewisse Modernisierung kirchlicher Strukturen, im Großen und Ganzen haben sich aber diejenigen Kräfte durchgesetzt, die den Glaubensgehorsam stark betonen. Gerade das sakralisierte Amtsverständnis müsse überdacht werden. Das daraus entstehende Machtgefälle ermögliche geistlichen Missbrauch. Dieser wiederum sei vielfach die Wurzel für sexuelle Übergriffe. „Glauben ist kein Akt des Gehorsams“, erklärte der Theologe. Viele Menschen erwarten jedoch gerade von der Kirche feste Strukturen und klare Botschaften, räumte Striet ein.
Gerade diejenigen, die Halt in der Religion suchen, seien anfällig für die Botschaften von „spirituellen Führern“ und brauchen einen besonderen Schutz. Sie dürfen daher nicht aus dem Blick der Kirche geraten, betonte Doris Wagner, die zu dem Thema - auch aus eigener Erfahrung - ein Buch (Herder 2019) geschrieben hat. Für die Theologin und Philosophin entstammt die Sehnsucht nach unveränderlichen Dogmen einer spirituellen Vernachlässigung. Vielen Christen ist etwa gar nicht bewusst, wie viele Lesarten eines Dogmas es gibt. Sie sind nicht in der Lage, ein eigenes Gottesbild zu entwickeln und weiterzuentwickeln. Sie kennen die Grundlagen ihres Glaubens kaum und wissen nicht, dass sie Glaubensgrundsätze und Praktiken kritisch hinterfragen dürfen. Diese Fähigkeiten bräuchten sie aber, um ihr Recht auf spirituelle Selbstbestimmung wahrnehmen zu können. Niemand – auch nicht die Kirche – wisse genau, was der Wille Gottes ist, so Wagner. Das müsse sich im Handeln der Seelsorger widerspiegeln.
Die Frage nach Gott sei letztlich immer eine Suche, sagte der Jesuit Klaus Mertes. Es gehe dabei um weit mehr als Bildung und Wissen. Im Zentrum stehen existenzielle Fragen. Das zeige auch die Dimension des geistlichen Missbrauchs. Menschen, die nach einem Sinn suchen, werden fehlgeleitet. Die Kirche könne den Suchenden nur Angebote machen und sie verantwortungsvoll begleiten. Wer nach der Wahrheit suche, sei immer leicht manipulierbar, ergänzte Striet.
Für die Zukunft sehen Striet, Wagner und Mertes eine große Aufgabe für die Kirche, wenn sie dem geistlichen Missbrauch Einhalt gebieten will. Striet erklärte, er habe die Hoffnung, dass die Kirche lerne, Kritik als etwas Positives zu sehen. Wer kritisiere, wolle die Kirche nicht zerstören, sondern zum Guten verbessern. Geistliche müssen anerkennen, dass sie nicht besser als die Gläubigen wissen, wie ein „gottgefälliges Leben“ auszusehen habe, so Wagner. Sie müssten zudem den Anspruch aufgeben, von ihrer Gemeinde verehrt zu werden. Solange „wir jedoch davon reden, dass wir die Kirchenbänke wieder vollkriegen müssen, ist geistlicher Missbrauch eigentlich schon vorprogrammiert.“