Warum treten die Menschen hierzulande reihenweise aus der Kirche aus? Das ist eine der großen Fragen, die die Christen hierzulande umtreibt. In den letzten 20 Jahren hat die katholische Kirche rund 15 Prozent ihrer Mitglieder verloren und die evangelischen Kirchen im selben Zeitraum mehr als 20 Prozent.
Schon seit längerem kehren jedes Jahr ein halbes bis ein Prozent der Mitglieder der Kirche den Rücken. Doch das ist nur ein Bruchteil derer, die schon einmal über einen Austritt nachgedacht haben, so die Macher einer Studie des Heidelberger Sinus-Institus. Das seien gut 40 Prozent aller deutschen Katholiken. Warum die meisten diesen letzten Schritt der Distanzierung scheuen, hat das Institut versucht mit einer Umfrage herauszufinden.
Den Ergebnissen zufolge entfaltet die Tradition der Familie nach wie vor eine mächtige Bindewirkung. Zudem empfinden nicht wenige den Gang zum Standesamt und die dort zu erledigenden Formalitäten schlicht als zu mühsam. Was Forscher und Auftraggeber gleichermaßen überrascht hat: Jesus Christus „schneidet besser ab als erwartet“, sagte Projektleiterin Jana Goetzke. 70 Prozent aller Befragten gaben an, der Glaube sei ihr wichtigster Grund, in der Kirche zu sein und zu bleiben. Wichtiger noch als das geschätzte soziale Engagement der Kirche. Das mit Abstand populärste kirchliche Angebot ist der Gottesdienst, vor allem zu Weihnachten und Ostern, aber auch zu Lebenswenden, bei Hochzeiten, wenn ein Kind getauft oder ein Angehöriger zu Grabe getragen wird.
Das Bistum Essen hat bereits im Herbst des vergangenen Jahres mit Hilfe einer Studie versucht, Erklärungen für die Austritte und Strategien dagegen zu finden. Alleine im Ruhrgebiet verlassen jedes Jahr zwischen 4.000 und 5.000 Menschen die katholische Kirche. „Es kann doch nicht sein, dass uns innerhalb der Kirche völlig egal ist, wenn eine erschreckend hohe Zahl getaufter Katholikinnen und Katholiken enttäuscht, frustriert oder gar zornig zum Amtsgericht geht", betont der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer. Für die Kirchen haben die Austritte auch finanzielle Folgen. Pro Person, die der Kirche den Rücken kehrt, gehe der Diözese im Jahr 500 bis 1.000 Euro an Kirchensteuereinnahmen verloren, erläutert der Essener Finanzchef Daniel Beckmann.
Für die Essener Studie wurden 3.000 Personen aus dem Ruhrgebiet online befragt, darunter rund 450 Ausgetretene. Die Statements sind deutlich und teilweise nur schwer zu ertragen – wie etwa die Aussage, dass „die Arroganz der Bischöfe ankotzt", sich ein Wiederheirater nur noch als „Christ zweiter Wahl“ fühlt, das „Verhütungsverbot einfach nicht mehr zeitgemäß ist“ oder „Männer und Frauen in der Amtskirche nicht gleichberechtigt sind“. „Machtpositionen werden schamlos ausgenutzt und mit meinem Geld Prunk-Paläste gebaut“, schreibt ein Befragter. Und ein anderer notiert, dass „ich schwul bin und die Kirche nichts anzubieten hat außer Hass, Ablehnung“.
Die Mehrheit der Äußerungen ist jedoch weit weniger drastisch. Die Macher der Studie sehen die Hauptgründe für einen Austritt in einer langen Phase der Entfremdung und einer fehlenden emotionalen Bindung zur Kirche. Die Unzufriedenheit mit der Kirchensteuer sei dann meist nur noch der konkrete Auslöser. „Es muss nachdenklich machen, dass mit dem Kirchenaustritt für den einzelnen Menschen häufig keineswegs ein Glaubensverlust verbunden ist. Vielmehr zeigt sich eine erhebliche Entfremdung zwischen dem einzelnen Menschen und der Kirche“, schreibt Generalvikar Pfeffer im Vorwort zur Essener Studie (Herder 2018) und kommt damit zu einem ähnlichen Ergebnis wie die Heidelberger. Der Glaube ist noch immer da, aber mit der Kirche in ihrer heutigen Gestalt können viele Menschen nichts mehr anfangen.
Zu den am meisten genannten Gründen für einen Austritt zählen eine „nicht mehr zeitgemäße Haltung“ im Bereich der Sexualmoral, das Frauenbild der Kirche, ihre Positionen zu wiederverheirateten Geschiedenen und dem Zölibat. Jeder zehnte Befragte nennt die Missbrauchsfälle oder die Finanzaffäre um das Limburger Bischofshaus. Eine große Zahl der Mitglieder ist laut Studie nur noch formal Teil der Kirche. So besuchen mehr als 90 Prozent der Getauften selten oder nie einen Gottesdienst.
Nicht alle kirchlichen Positionen wie zu Homosexualität oder wiederverheirateten Geschiedenen sind „beliebig verhandelbar", halten die Studienautoren fest. Umgekehrt betont Generalvikar Pfeffer, dass sich die Kirche durch die Ausgetretenen auch in ihren Lehr- und Moralfragen infrage stellen lassen müsse. Aber auch jenseits von dogmatischen Festlegungen gibt die Studie Hinweise, was die Kirche besser machen kann, damit Menschen bei ihr bleiben.
Ein Hauptaugenmerk gilt dabei den Menschen, die noch Mitglied der Kirche sind, aber keine ihrer Angebote wahrnehmen. Die Entscheidung zum Kirchenaustritt bildet sich über einen längeren Zeitraum heraus. Sie kann also auch wieder umgekehrt werden, wenn die Menschen positive Erlebnisse mit der Kirche machen. Für solche Begegnungen bieten sich niedrigschwellige Veranstaltungen wie etwa Orgelmeditationen an, aber auch ganz klassische Angebote wie Festtagsgottesdienste oder Kasualien. Ein Ergebnis der Essener Umfrage lautet, dass die Menschen die Kirche als zu wenig spirituell wahrnehmen. Hier stellt sich die Frage nach neuen Formen, aber auch danach, wie man die traditionellen Angebote wieder mit mehr Leben füllen kann. Generalvikar Klaus Pfeffer urteilte schon 2016: „In unserer Kirche gibt es zu wenig Raum für das offene und ehrliche Ringen der Menschen um die Fragen des Lebens – und vielleicht auch um die Frage nach Gott.“